Ein gefundenes Fressen für die Medien war die kürzliche Freigabe von Flibanserin (vertrieben als “Addyi”) in den USA, ein neu entwickeltes Medikament, das die Lust von Frauen auf Sex steigern soll. Im Unterschied zu Viagra wirkt Flibanserin allerdings weniger auf körperlicher, sondern vielmehr auf neurologischer Ebene: eigentlich handelt es sich bei dem Medikament um ein Antidepressivum, das den Serotonin-Spiegel (welcher lusthemmend wirkt) absenkt, und die Konzentration der Glückshormone Dopamin und Noradrenalin anhebt (was sich libidosteigernd auswirken kann). Insofern ist auch der ‘modus operandi’ der Einnahme wie bei AD’s: die Pille muß täglich eingenommen werden, egal, ob Sex geplant ist oder nicht. Und frau muß mit Nebenwirkungen rechnen, wie sie auch bei der Einnahme von Antidepressiva auftreten können, etwa Schlafstörungen, Schwindel, Übelkeit, Schläfrigkeit, Angstsymptomen. Gefährlich soll die Einnahme gar in Verbindung mit Alkoholkonsum sein – was gerade bei einem solchen Arzneimittel einigermaßen ironisch anmutet.
Zugelassen wurde das Mittel für Frauen vor der Menopause, welche an einem Mangel an sexuellem Verlangen leiden. Hiefür wurden, wohl aus Marketing-Gründen, sogar zwei neue Krankheitsbegriffe geschaffen: “Hypoactive Sexual Desire Disorder” (HSDD) und “Female Sexual Dysfunction” (FSD) und prompt Studien präsentiert, denen zufolge bis zu 25% der Frauen an dieser “Störung” leiden sollen. All dies, obwohl ja Libidomangel bereits sowohl im Diagnoseverzeichnis ICD-10 als auch dem DSM definiert ist. Laut der zulassenden FDA soll das Medikament nur verschrieben werden, wenn der Lustmangel nicht durch die aktuellen Lebensumstände bedingt ist, also z.B. durch Schwangerschaft, Stillphase, Krankheiten, Medikamenteneinnahme oder Probleme in der Partnerschaft. Man braucht jedoch kein großer Skeptiker zu sein, um zu bezweifeln, dass besonders in der USA die wenigsten Ärzte zögern werden, ihren Patientinnen Antidepressiva dieser speziellen Art zu verschreiben.
Die konkrete Wirkung des Medikaments ist fragwürdig: im Vergleich mit Placebos hatten Frauen, die Flibanserin/Addyi einnahmen, gerade einmal 1/2-1x häufiger Sex.
Insofern wirft die Freigabe des Arzneimittels unweigerlich Fragen auf: muß denn in einer funktionierenden Partnerschaft tatsächlich ein Partner Medikamente einnehmen, nur weil beide unterschiedlich oft Lust verspüren? Und wenn es denn schon sein muß, warum gerade mit einem Medikament behandeln, das offenbar nicht nur kaum wirkt, sondern auch die bescheidene Wirksamkeit mit dem Risiko signifikanter Nebenwirkungen erkauft?
Tatsächlich wies nun eine neue an der MedUni Wien durchgeführte Studie nach, dass Placebos sich als zumindest ebenso wirksam für die sexuelle Libido der Frau erweisen wie beide aktuell verfügbaren “Behandlungsmethoden” mittels Flibanserin oder Oxytocin. Die Studienleiterin, M. Bayerle-Edereine, erklärt sich dies mit der intensiveren und offeneren Kommunikation der Paare als Begleiterscheinung der Studie, und sagt zudem: “Sexuelle Probleme sind häufiger durch laufenden Stress verursacht als durch Mängel im weiblichen Hormonhaushalt.” Auch wenn das eine das andere nicht ausschließt, und auch hormonelle Störungen durchaus streßbedingt sein können, kann ich aus der Arbeit mit Paaren dennoch bestätigen, dass das Grundelement erfolgreicher Sexualtherapie zunächst in der Beseitigung der Hürden zu einer erfüllenden Sexualität besteht. Insofern sind zunächst einmal mögliche Ursachen zu erkunden und zu behandeln, statt gleich zu den erstbesten Medikamenten zu greifen, die versprechen, die Probleme auf “technische” Weise zu beseitigen.
Weiterführende Artikel zum Thema:
Moynihan, Ray: “The making of a disease: female sexual dysfunction“, BMJ 2003; 326:45 doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.326.7379.45, 2003
Moynihan, Ray: “Merging of marketing and medical science: female sexual dysfunction“, BMJ 2010; 341:c5050 doi: http://dx.doi.org/10.1136/bmj.c5050, 2010
Dana A. Muin et al.: “Effect of long-term intranasal oxytocin on sexual dysfunction in premenopausal and postmenopausal women: a randomized trial”, in: Fertility and Sterility (2015). DOI: 10.1016/j.fertnstert.2015.06.010
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