Mitunter ist es schwierig, einen sachlich-kühlen Kopf zu bewahren, liest man diverse medizinische Fachinformationen.
So soll nun ein neues “Stufenschema” Mediziner unterstützen, Patienten mit sogenannten “therapieresistenten” oder chronischen Depressionen effektiver als bisher zu behandeln. Denn bei etwa jedem vierten Depressionspatienten, so eine Aussendung der “Österreichischen Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie” (ÖGPB), hilft eine einfache medikamentöse Behandlung nicht oder nur unzureichend.
Die “Volkskrankheit Depression” ist in allen Industrieländern im Vormarsch. In Österreich sind etwa 400.000 Menschen betroffen, so ÖGPB-Präsidentin Susanne Lentner. Die Krankheit sei nicht nur die häufigste Ursache für Frühpension und Arbeitsunfähigkeit, sondern auch für 70 bis 80 Prozent der Suizide verantwortlich. Bei fast der Hälfte der Betroffenen werde die Krankheit nicht erkannt, entweder weil die Allgemeinmediziner nicht ausreichend geschult sind oder die depressiven Menschen gar nicht erst zum Arzt gehen, sagte Michael Bach, Primar am Landeskrankenhaus Steyr (OÖ).
Zu ergänzen wäre aber, dass nur jeder zehnte Patient eine adäquate Therapie erhält, da viele Mediziner sie falsch oder gar nicht diagnostizieren und sodann ausschließlich die häufigen körperlichen Symptome der Depression (mehr dazu in den am Artikelende verlinkten Texten) behandeln oder weil sie ohne tieferer Kenntnis über adäquate Depressionsbehandlung schlicht Antidepressiva verschreiben und dann die Patienten sich selbst überlassen.
Mit neuen Leitlinien in Form eines sog. “Konsensus-Statements” der Neurologen und Psychiater soll aber nun alles besser werden. Sie soll den Medizinern helfen, insbesondere die besonders komplexen (wenn auch seltenen – Anmerkung RLF) Fälle der therapieresistenten Depression zu behandeln, also “jene Fälle, in denen mindestens zwei unterschiedliche Antidepressiva nicht die erwünschte Wirkung brachten”. Die herausgebenden Ärzte merken an, dass sich eine verbesserte Therapie auch volkswirtschaftlich auszahlen würde: “Der teuerste Weg ist, nicht zu behandeln, der zweitteuerste, eine schlechte Behandlung und die drittteuerste Möglichkeit: eine gute Behandlung.”
Die Leitlinien der ÖGPB schlagen nun vor, “zunächst die Dosis des verschriebenen Medikaments zu erhöhen, und, wenn damit kein Erfolg zu verzeichnen ist, ein zweites Antidepressivum gleichzeitig zu verabreichen”. Als nächsten Schritt sollen die Ärzte “Zusatzbehandlungen mit anderen Medikamenten oder Therapieformen wie Psychotherapie, Schlafentzug und Elektrokrampftherapie versuchen”. Einfach ein anderes Antidepressivum mit unterschiedlicher Wirkungsweise zu probieren sei laut Studien nur in wenigen Fällen erfolgreich.
Zusammengefasst also: Ärzte werden weiterhin dazu angehalten, bei einem doch in erster Linke psychischen Leidenskomplex mal bis auf weiteres ausschließlich Tabletten zu verschreiben, dann noch mehr Tabletten, und dann…
Das ist zweifellos eine sehr positive Nachricht für die Pharmaindustrie, aber sicherlich nicht der im Untertitel behauptete “state of the art” (Stand der Heilkunst) nach alldem, was man heute über die Ursachen und Zusammenhänge der Depressionserkrankung und ihrer Therapiemöglichkeiten weiß. Erst als dritter Schritt nämlich wird Psychotherapie genannt – und zwar in einem Atemzug mit Elektrokrampftherapie?! Da stehen einem schon ein wenig die Haare zu Berge, und die Herren und Frauen Mediziner, die hinter derartigen “Leitlinien” stehen, müssen sich nicht nur fragen lassen, inwieweit ihre Empfehlungen dem aktuellen Forschungsstand entsprechen sondern zum anderen auch, in welchen Interessen sie mit derartigen Empfehlungen eigentlich agieren. Kein besonders gutes Licht wirft in diesem Zusammenhang auch auf die Leitlinien, dass diese mit keinem einzigen Wort beispielsweise die Fragen der Compliance, also der Nebenwirkungen von Antidepressiva und damit verbundenen Akzeptanzproblemen bei PatientInnen erwähnen.
Bereits in einer Meta-Studie aus dem Jahre 1999 (!), welche die Effizienz rein medikamenten-basierter Therapiemaßnahmen mit dem Einsatz von Psychotherapie (in diesem Fall der Verhaltenstherapie, da mit dieser Methode spezifische Untersuchungsgegenstände am leichtesten abgrenzbar sind) vergleicht, kam zum folgenden Ergebnis:
“Cognitive behavior therapy has fared as well as antidepressant medication with severely depressed outpatients in four major comparisons. Until findings emerge from current or future comparative trials, antidepressant medication should not be considered, on the basis of empirical evidence, to be superior to cognitive behavior therapy for the acute treatment of severely depressed outpatients.”
Aus meiner persönlichen Erfahrung kann ich darüber hinaus sagen, dass mir bisher noch kein sogenannter “therapieresistenter” Patient begegnet ist. Nur Glück? Oder könnte es daran liegen, dass Psychotherapie in aller Regel eben sehr effektiv in der Depressionsbehandlung sein kann? Sofern sich Menschen auf eine Psychotherapie einlassen und diese eine gewisse Zeit lang durchziehen, konnten in jedem Fall zumindest immer merkbare Verbesserungen des Zustandsbildes erreicht und Strategien für einen besseren Umgang mit besonders schwierigen Depressionsphasen erarbeitet werden. Die Erfolge lagen vielleicht zum Teil auch daran, dass ich um mein Fachgebiet keine mentalen Schutzmauern errichte: im Fall von schweren oder sogenannten “chronischen” Depressionen nämlich halte ich vorübergehende Medikation bis zu einer Verbesserung des Zustandsbildes zur Stabilisierung und Etablierung einer guten Basis für die therapeutische Arbeit für durchaus sinnvoll. Oberstes Ziel ist, den hilfesuchenden Menschen zu helfen, und da sollte kein professioneller Behandlungsansatz von Beginn an ausgeschlossen werden.
Zum Weiterlesen:
Depression – Mythen und Fakten
Selbsttest auf Depression
(Quellen: 13. Tagung der ÖGPB / Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie, 11/2011; Medications Versus Cognitive Behavior Therapy for Severely Depressed Outpatients: Mega-Analysis of Four Randomized Comparisons in: Robert J. DeRubeis, Ph.D.; Lois A. Gelfand, M.A.; Tony Z. Tang, M.A.; Anne D. Simons, Ph.D., Am J Psychiatry 1999;156:1007-1013. Photo:istockphoto.com)
Beat Reply
Herzlichen Dank für diesen Artikel – hat mich sehr angesprochen – Kompliment!