Dieser Tage wurde ein bemerkenswerter “offener Brief” im “Harper’s Magazine” veröffentlicht: über 150 bekannte Autoren und Intellektuelle wie Margaret Atwood, Noam Chomsky, Salman Rushdie, J. K. Rowling, Khaled Khalifa oder Daniel Kehlmann drückten darin ihre Unterstützung für die jüngsten Proteste gegen Polizeibrutalität und Rassismus in den USA aus. Gleichzeitig kritisieren sie aber auch, dass “der freie Austausch von Informationen und Ideen, der Lebensnerv einer liberalen Gesellschaft, mit jedem Tag immer mehr eingeengt wird”.
Laut Thomas Ch. Williams will man verteidigen, “… dass Menschen frei sprechen und denken können, ohne Angst vor Strafe oder Vergeltung haben zu müssen”, es ging um “eine Verteidigung des Rechts, anderer Meinung zu sein, ohne sich um seine Arbeitsstelle sorgen zu müssen”.
Dieser offene Brief drückt ziemlich exakt etwas aus, das ich selbst seit Monaten sorgenvoll empfinde: das Spektrum “offen aussprechbarer Meinungen” schrumpft. Und das seit Jahren.
Ich bin ein Kind der 68er – damals war “Revolution” gegen das sogenannte “Establishment” en vogue, man kleidete sich provokant, trug langes Haar und konsumierte Drogen. Die darin verpackte Botschaft lautete: “wir wollen nicht mehr brav und angepasst sein!”. Viele Menschen verspürten einen unbändigen Drang, mehr invidivuelle Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten zu erringen und alte Korsette von “Folgsamkeit” und Konvention abzuschütteln. Wie sich andere dabei “fühlten”, war weitgehend irrelevant – ja auf merkwürdige Weise existierte häufig sogar Faszination und Respekt für den Kampf der “Baby-Boomer” nach kompromissloser “Selbstverwirklichung”, die zum Inbegriff und einem der wichtigsten Werte dieser Generation wurde und ein riesiges Potenzial an Kreativität und Innovation freisetzte.
Paradoxerweise (mit exakt jenen Personen in Machtpositionen, die der freiheitsliebenden “Hippie-Generation” angehören) scheinen wir uns heute allerdings inmitten eines Individualismus-Backlash-Prozesses zu befinden: weltweit ist eine Rückkehr zu mehr Konformität und Kollektivismus feststellbar. Gerne zeigen wir im Westen auf China: deren omnipräsent in den Lebensalltag eingewobenen Kontrollinstrumente, digital und mit künstlicher Intelligenz ausgestattet auf das höchste Niveau technischer Machbarkeit gebracht, entrüsten und entsetzen uns. Doch gleichzeitig entgeht uns, dass auf einer subtileren Ebene ähnliche Tendenzen auch bei uns nicht nur existieren, sondern auch immer stärker exekutierbar zu werden drohen.
Gemeinsam ist beiden Systemen, dass ein bestimmter Rahmen des Erlaubten existiert, innerhalb dessen man sich bewegen – und frei äußern – darf. “Dort” werden diesbezügliche Überschreitungen weitgehend per Software automatisiert mit negativem “social credit” bestraft, “hier” (in der westlichen Kulturhemisphäre) erledigen dies die Medien, der Social-Media-Mob oder “ModeratorInnen” mit belehrenden Worten oder mehr oder minder offener Filterung. Die subtile Filterung unerwünschter Inhalte durch “Moderation” (hierzu dienen häufig Bewertungen durch Mitleser, Löschungen, “Demonetarisierung” von Videos oder gar die Blockierung oder Löschung ganzer Kanäle oder Accounts) wurde zuletzt durch legistische Mittel weiter verschärft: so haben sich diverse Parteien (in der Regel sind es bemerkenswerterweise auch hier wieder gerade jene des linken politischen Spektrums) während der letzten Jahre intensiv für Bestrafungsmöglichkeiten der Autoren sogenannter “Hetz-Postings” ein- und diese z.T. auch politisch durchgesetzt. Was als “Hetz-Posting” gilt, ist allerdings – und das ist Teil des Problems – natürlich Auslegungssache. Wie uns die Vergangenheit lehrt, ist zu befürchten, dass der betreffende Interpretationssrahmen im Laufe der Zeit ausgeweitet und auch noch deutlich stärker politisch instrumentalisiert werden wird. Mit Folgen, die durchaus ähnlich jenen sein könnten, die wir derzeit in China sehen: empfindliche finanzielle Strafen, öffentliche “Schändung”, Einschränkungen der persönlichen Freiheiten bis zum völligen Entzug der körperlichen Freiheit (Gefängnisstrafen). Halt im Unterschied zu China (noch?) nicht auf elektronischem Wege exekutiert, sondern von einem leibhaftigen Richter/Richterin verkündet, der/die sich in aller Regel jedoch nur als Ausführungsorgan für die politisch führenden Kräfte und Gesetzesrahmen versteht.
Doch selbst wenn es nicht so weit kommen sollte – geradezu täglich können wir beobachten, wie sich unsere Gesellschaft in Riesenschritten kollektivistisch umformt – “Ausreißer” werden zurechtgewiesen, gemobbt und sozial attackiert, bis sie (oder ihr Umfeld: z.B. Arbeitgeber, Kunden etc.) klein beigeben und “Strafmaßnahmen” gegen das unliebsame Verhalten anwenden.
Diskurs wird nur innerhalb enger Grenzen toleriert, denn “die Wahrheit” im Sinne der “einzig akzeptablen Sichtweise” ist ja schon bekannt, was gibt es da also überhaupt noch zu diskutieren? Oder ist man etwa “Rechter”, “Verschwörungstheoretiker” oder gar “Trump-Sympathisant”?
Genau diese Einschränkung des politischen und sozialen Diskurses, die stereotypisierende Simplifizierung vieler komplexer Probleme, eine Schubladisierung auf “Links” vs. “Rechts” in der politischen Debatte (“bist du nicht X, dann bist Du Y!”), die Reduktion der erlaubten Denkmöglichkeiten und damit verbunden auch eine unausbleibliche intellektuelle und soziale Rückentwicklung adressieren die AutorInnen des “offenen Briefes” auf eindringliche Weise.
Es ist nicht zu erwarten, dass der offene Brief viel verändert, auch weil es ja zu einer sozialen Strömung gehört, dass die von der Gunst und nicht zuletzt auch dem Geld der Machthaber abhängigen führenden Medien das dominierende politische System schützen und bewerben. Insofern jedoch kann es eine durchaus spannende Frage sein, wie man sich in einem solchen Klima selbst positioniert: schwenkt man in den “mainstream” ein, will man gar der “Beste der Besten” in der vorherrschenden ideologischen Strömung sein – oder opponiert man, steigt man aus / begegnet ihm mit Rückzug, oder (vermutlich die grösste Herausforderung): erarbeitet man sich mühevoll eine eigene Position und vertritt diese dann auch, womöglich sogar gegen massiven Widerstand?
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Die westliche Gesellschaft hat sich die Freiheiten der freien Rede – also Gedanken und Meinungen offen aussprechen zu können – mit einem Meer an vergossenem Blut und dem Tode großer Geister hart erkämpft. Alleine der Durchbruch der Wissenschaft gegenüber der Religion, der Triumph humanistischer Grundsätze und Menschenrechte über den Vasallenstaat waren wesentliche Errungenschaften, die den Weg für zuvor undenkbare individuelle Freiheiten eröffneten. Keine seither aufgekommenen ideologischen Ausrichtungen jedoch haben so viele Menschenopfer verursacht wie die kollektivistischen (sowohl der Kommunismus, als auch der Nationalsozialismus fallen in diese Kategorie). Wir sollten zunehmend Acht geben, wie viel von unseren errungenen Freiheiten wir noch aufgeben können, bevor wir uns in einem neototalitären politischen System wiederfinden, aus dem so leicht kein Zurück mehr möglich ist.
“Freedom of speech is essential to a peaceful society.
Our ideas must be free to clash and resolve conflicts – so that our bodies don’t.”
(Robert Breedlove in: “Masters and Slaves of Money“, 2020)
Querverweis: “The Values of Free Speech” by Richard Chen (engl.)