Auf ein eindrückliches, bewegendes Interview mit dem Überlebenden eines Suizidversuchs stieß ich heute durch einen Linkverweis in einem Zeitungsartikel: im September 2000 sprang Kevin Hines im Zustand präsuizidaler Einengung bzw. des präsuizidalen Syndroms von der Golden Gate Bridge und überlebte diesen Sprung nur durch äußerst glückliche Umstände.
Heute spricht er darüber gelöst und ist in einem helfenden Beruf (Krankenpfleger) tätig. In seiner Freizeit versucht er, aufklärerisch über die Wichtigkeit korrekter medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung bei psychischen Erkrankungen zu informieren. “Ich bin glücklich, wenn ich mit meiner entsetzlichen Erfahrung nur eine einzige Person davon abhalten kann, sich das Leben zu nehmen“, sagt er im NZZ-Interview mit G.Sachse. Tatsächlich werden im Zuge des (zeitbegrenzten) präsuizidalen Syndroms, das in den schwersten Phasen von Depressionen, aber z.B. auch im Zuge paranoider Wahnvorstellungen auftreten kann, Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalte anders als unter normalen Umständen erfaßt, und auch anders als sonst mit Affekten und Verhalten verknüpft. Schließlich erscheint den Betroffenen kein anderer Ausweg mehr möglich, als sich selbst das Leben zu nehmen. Erst nach dem Abklingen des Syndroms werden wieder auch andere Optionen wahrnehm- und vorstellbar, weshalb es in Krisenphasen geradezu überlebenswichtig sein kann, rechtzeitig professionelle Hilfe in der Notsituation zu suchen (z.B. Notrufnummer, Notfall-Anruf und/oder Einschieben eines Krisentermins beim Psychotherapeuten, Erstversorgung oder Selbsteinweisung an einer psychiatrischen Klinik zur Überbrückung der schwierigsten Zeit, Anruf beim Psychosozialen Notdienst, etc.), zumindest aber Freunde oder Bekannte zu kontaktieren, und grundsätzlich “auf Zeit zu spielen”, d.h., darauf abzuzielen, diese kaum auszuhaltende Phase mit allen Kräften zu durchtauchen und z.B. bis zum nächsten Morgen Zeit zu nehmen. Zumindest wenn es einem dann wider Erwarten immer noch nicht besser gehen sollte, kann man einen Facharzt oder Psychotherapeuten kontaktieren; generell ist in Phasen schwerer Depressionen aber immer die Kontaktaufnahme mit einem Facharzt oder Psychotherapeuten anzuraten, auch wenn es nicht bereits zu Suizidgedanken kommt oder diese bereits wieder abgeklungen sind.
Gespräche mit KlientInnen, die suizidale Einengungsphasen hinter sich haben, bestätigten mir immer wieder, daß die Betroffenen nach einer solcherart durchstandenen Krisenphase glücklich darüber sind, “überlebt” zu haben, und ihrem Leben noch kein Ende gesetzt hatten. In der seither vergangenen Zeit erlebten sie entweder – zuvor völlig unerwartete – erfreuliche Ereignisse, auf die sie keinesfalls gern verzichtet hätten, oder ihr Leben nahm ganz allgemein eine positive Wende, die vorher in dieser Weise noch nicht absehbar war. “Dem Leben eine Chance geben” – diesen normalerweise in anderem Kontext gebräuchlichen Slogan sollte man deshalb gerade in jenen Phasen des Lebens nicht vergessen, in denen es scheinbar nicht mehr tiefer nach unten gehen kann. Wie wir auch aus der Wirtschaft wissen, ist es systemimmanent, daß es nach einem Tiefpunkt nur nach oben gehen kann – und was könnte als Lebensphase schon schlimmer sein, als eine, in der man keinen anderen Ausweg mehr als den Tod sieht? So paradox es klingt: aber nach einer den Tiefpunkt erfolgreich durchstandenen Nacht spürt sich das Leben meist zumindest schon einen Deut besser an als zuvor. Und in einem Gespräch (vor allem einem Gespräch mit einer Person, die zur professionellen Unterstützung in schwierigen Lebensphasen ausgebildet ist) lassen sich meist sogar völlig neue Perspektiven erarbeiten – Perspektiven und Wegoptionen, die dem Leben generell und langfristig eine positive Wende geben können. Um nicht mißverstanden zu werden: das ist nicht immer ein leichter oder schneller Prozess; richtig angeleitet und begleitet gelingt er aber doch in den überwiegend meisten Fällen.
Zum Weiterlesen:
Depression – Mythen und Fakten rund um eine ‘Zeitkrankheit’ (Artikel R.L.Fellner)
Suizid – Daten und Fakten
Präsuizidales Syndrom – erkennen und richtig handeln
Vier Sekunden bis zum Aufprall (NZZ Interview mit Kevin Hines 2009)
Lethal Beauty – A jumper [..] makes a new life (San Francisco Chronicle 2005)
Buchtipps zum Thema “Depression”
Plastische Chirurgie Reply
Es ist von aussen leider schwer zu erkennen ob jemand Suizid-Gefährtet ist oder nicht.