Gedanken eines Suizidversuch-Überlebenden

Auf ein eindrückliches, bewegendes Interview mit dem Überlebenden eines Suizidversuchs stieß ich heute durch einen Linkverweis in einem Zeitungsartikel: im September 2000 sprang Kevin Hines im Zustand  präsuizidaler Einengung bzw. des präsuizidalen Syndroms von der Golden Gate Bridge und überlebte diesen Sprung nur durch äußerst glückliche Umstände.

Bild © Seattle Times

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Heute spricht er darüber gelöst und ist in einem helfenden Beruf (Krankenpfleger) tätig. In seiner Freizeit versucht er, aufklärerisch über die Wichtigkeit korrekter medizinischer und psychotherapeutischer Behandlung bei psychischen Erkrankungen zu informieren. “Ich bin glücklich, wenn ich mit meiner entsetzlichen Erfahrung nur eine einzige Person davon abhalten kann, sich das Leben zu nehmen“, sagt er im NZZ-Interview mit G.Sachse. Tatsächlich werden im Zuge des (zeitbegrenzten) präsuizidalen Syndroms, das in den schwersten Phasen von Depressionen, aber z.B. auch im Zuge paranoider Wahnvorstellungen auftreten kann, Erlebnis-, Wahrnehmungs- und Denkinhalte anders als unter normalen Umständen erfaßt, und auch anders als sonst mit Affekten und Verhalten verknüpft. Schließlich erscheint den Betroffenen kein anderer Ausweg mehr möglich, als sich selbst das Leben zu nehmen. Erst nach dem Abklingen des Syndroms werden wieder auch andere Optionen wahrnehm- und vorstellbar, weshalb es in Krisenphasen geradezu überlebenswichtig sein kann, rechtzeitig professionelle Hilfe in der Notsituation zu suchen (z.B. Notrufnummer, Notfall-Anruf und/oder Einschieben eines Krisentermins beim Psychotherapeuten, Erstversorgung oder Selbsteinweisung an einer psychiatrischen Klinik zur Überbrückung der schwierigsten Zeit, Anruf beim Psychosozialen Notdienst, etc.), zumindest aber Freunde oder Bekannte zu kontaktieren, und grundsätzlich “auf Zeit zu spielen”, d.h., darauf abzuzielen, diese kaum auszuhaltende Phase mit allen Kräften zu durchtauchen und z.B. bis zum nächsten Morgen Zeit zu nehmen. Zumindest wenn es einem dann wider Erwarten immer noch nicht besser gehen sollte, kann man einen Facharzt oder Psychotherapeuten kontaktieren; generell ist in Phasen schwerer Depressionen aber immer die Kontaktaufnahme mit einem Facharzt oder Psychotherapeuten anzuraten, auch wenn es nicht bereits zu Suizidgedanken kommt oder diese bereits wieder abgeklungen sind.

Gespräche mit KlientInnen, die suizidale Einengungsphasen hinter sich haben, bestätigten mir immer wieder, daß die Betroffenen nach einer solcherart durchstandenen Krisenphase glücklich darüber sind, “überlebt” zu haben, und ihrem Leben noch kein Ende gesetzt hatten. In der seither vergangenen Zeit erlebten sie entweder – zuvor völlig unerwartete – erfreuliche Ereignisse, auf die sie keinesfalls gern verzichtet hätten, oder ihr Leben nahm ganz allgemein eine positive Wende, die vorher in dieser Weise noch nicht absehbar war. “Dem Leben eine Chance geben” – diesen normalerweise in anderem Kontext gebräuchlichen Slogan sollte man deshalb gerade in jenen Phasen des Lebens nicht vergessen, in denen es scheinbar nicht mehr tiefer nach unten gehen kann. Wie wir auch aus der Wirtschaft wissen, ist es systemimmanent, daß es nach einem Tiefpunkt nur nach oben gehen kann – und was könnte als Lebensphase schon schlimmer sein, als eine, in der man keinen anderen Ausweg mehr als den Tod sieht? So paradox es klingt: aber nach einer den Tiefpunkt erfolgreich durchstandenen Nacht spürt sich das Leben meist zumindest schon einen Deut besser an als zuvor. Und in einem Gespräch (vor allem einem Gespräch mit einer Person, die zur professionellen Unterstützung in schwierigen Lebensphasen ausgebildet ist) lassen sich meist sogar völlig neue Perspektiven erarbeiten – Perspektiven und Wegoptionen, die dem Leben generell und langfristig eine positive Wende geben können. Um nicht mißverstanden zu werden: das ist nicht immer ein leichter oder schneller Prozess; richtig angeleitet und begleitet gelingt er aber doch in den überwiegend meisten Fällen.

Zum Weiterlesen:

Depression – Mythen und Fakten rund um eine ‘Zeitkrankheit’ (Artikel R.L.Fellner)
Suizid – Daten und Fakten
Präsuizidales Syndrom – erkennen und richtig handeln
Vier Sekunden bis zum Aufprall (NZZ Interview mit Kevin Hines 2009)
Lethal Beauty – A jumper [..] makes a new life  (San Francisco Chronicle 2005)
Buchtipps zum Thema “Depression”

Richard L. Fellner, DSP, MSc.

Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut, Paartherapeut



9 Antworten

Plastische Chirurgie Reply

Es ist von aussen leider schwer zu erkennen ob jemand Suizid-Gefährtet ist oder nicht.

Rebeka Reply

Nein, ist es nicht.
Wenn Menschen nur genauer hinsehen würden, wenn sie einfühlsamer sein könnten udn dazu auch noch aufmerksamer- dann würden sie es erkennen. Aber wer macht sich schon die Mühe??
Selbst, wenn man es ausspricht nehmen dich wenige ernst. Und das solte sich ändern.

Mila Reply

Ich befürworte die Aussage von Plastische Chirurgie.

Es ist sehr schwer zu erkennen, ob jemand Suizidgefährdet ist oder nicht.
Es hat oft nichts mit mangelnder Aufmerksamkeit zu tun, denn die Suizidgefährdeten könnnen ihre Depressionen und Selbstmordgedanken gut überspielen, wie jedermann dies bei seinen eigenen Gefühlen und Ängsten tut.

.

Rainer Reply

Als Überlebender muss ich beiden Ansätzen zustimmen: Ja, der Betroffene versucht möglichst nicht aufzufallen, aus Angst nicht verstanden zu werden, aus Angst überrollt zu werden. Andererseits ist es vielfach genauso wie Rebeka sagt: Wenn die Menschen offener und einfühlsamer wären, müsste sich der Betroffene nicht verstellen. Er müsste keine Angst haben sich zu öffnen, doch Depression hat trotz vieler öffentlicher Coming Outs immer noch ein Schmuddelimage im Sinne “das sind doch alles Schwächlinge”. Diese Gesellschaft verzeiht keine Schwächen und genau daran scheitert das Sprechen des Depressiven. Genau weil die Welt i.d.R. so ignorant und kalt reagiert, wie er es erwartet, wird er nicht sprechen – bis er mit etwas Glück eine Ausnahme trifft, die seine Ausweglosigkeit erkennt!

Ritter Reply

Beispiel mit hoher „Suizid-Rate“: Golden Gate Bridge. Sie ist eben nicht nur touristische Attraktion. Mr. Hines, ein Leistungssportler, jedoch von Depressionen heimgesucht und zurzeit des Absprungs gerade mal 24 Jahre alt, gab der Presse vor Jahren ein Interview: „Ich stand lange da und weinte. Ich dachte mir, wenn jetzt jemand kommt, der zeigt, dass er sich Sorgen um mich macht, dann springe ich nicht.“ Hines wartete vergebens. „Ich denke meine Muskeln haben mir geholfen, den Aufschlag zu überleben.“
Suizidgefährdete wissen, ein Sturz aus 70 Metern Höhe ist in der Regel tödlich: Ertrinken durch tiefes Untertauchen oder Frakturen nach allen Regeln der Kunst. Überlebende haben sich Interviews gestellt u. offenherzig geantwortet: “Meine Reue kam, als ich noch in der Luft war.” Suizidgefährdete die einen Toten nach dem Absturz gesehen haben, konnten ihr Problem in den Griff bekommen. Literatur: “Die Toten am Fort Point”.
Suizide resultieren aus Problemen in der Gesellschaft. Das Schlimmste wie im Fall Hines, der sich hinsichtlich seiner Probleme öffnete: Schon die unsensiblen Eltern versagten, indem sie die Depressionen als Vorstufe zur Suizidgefahr ignorierten. Letzteres wird auch durch Drogenkonsum verursacht. Kommentar von Rebeka: Zutreffend!
Dem Kommentar von Mila kann man nicht ganz zustimmen. Solange der Depressive sein Problem überspielen kann, ist Hilfe effektiv, und das Überspielen ist verräterisch. Äußerst selten gelingt es, eigene Depressionen zu „übertuschen“. Und hier greift wieder die Aufmerksamkeit aus dem Umfeld.

pet Reply

Die Leute haben besseres zu tun, sich z.bsp. um ihr eigenes leben zu kümmern. zu beginn bieten sie natürl.ihre hilfe an, aber irgendwann ist die toleranzgrenze auch erreicht und sie wollen/ können nicht mehr und wissen auch nicht weiter…dieses blöde geschwafel von: alles wird besser, such dir hilfe (viele absagen, die wartezeiten sind immens und oft sind die leute da auch nur an ihrer arbeitsstelle und arbeiten so automatisch irgendwie…) hilfe ist dann nicht da wenn man sie braucht. außerdem ist eine psych.erkrankung weiterhin ein gr.stigmata, da kanns noch so tolle artikel von irgendwelchen chefs oder promis geben “ich habe es überlebt…”. bei den kleinen leuten zählt sowas nicht als schmuckstück…in was für einer kranken welt leben wir eigentlich??? das ist doch alles so bescheuert…die psycho-branche boomt, psychopharmaka freut sich, menschen sind auswechselbar, wie´n paar socken…

M. Volk Reply

Liebes Team,
ich suche das Buch von Kevin Hines aud Deutsch “4 Sekunden bis zum Aufprall”, wissen Sie wo ich es bekommen könnte ?
Vielen Dank für Ihre Mühe
M. Volk

r.l.fellner Reply

Liebe Frau Volk,

ich konnte keine Referenz auf eine deutschsprachige Übersetzung finden, nur auf seinen englischsprachigen Titel

Ich hoffe, das hilft Ihnen weiter.
(Sollte einem der LeserInnen dieses Artikels doch die Verfügbarkeit einer deutschsprachigen Version bekannt sein, bitte um weitere Informationen!)

Freundliche Grüße,
r.l.fellner

Christoph D. Reply

Hallo und vielen Dank für den Beitrag. Menschen mit psychischen Problemen sollten auf keinen Fall auf professionelle Hilfe verzichten. Ich habe in meinem Umfeld selbst nicht erkrankte Personen die dieses Angebot wahrnehmen, einfach weil es ihnen gut tut.

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11.11.22