“Man fühlt zwar keine physischen Schmerzen, trotzdem kann das Leid viel größer sein.” Dass Gewalt im Internet nicht weniger schlimm ist als reale, war eine der Kernaussagen von Carmel Vaismans Referat “Don’t Feed The Trolls. Countering The Discourse Patterns of Online Harassments”. Die israelische Kommunikationswissenschafterin sprach auf Einladung der Universität Wien über Mobbing, Beschimpfungen und Erniedrigungen als Phänomen in Foren und Online-Medien und stellte ein Stufenmodell virtuellen Fehlverhaltens vor.
Als mildeste Ebene bezeichnete sie das auf die Monty-Python-Wortschöpfung “Spam” zurückgehende Wiederholen informationsleerer bis -armer Inhalte. Über Flaming – polemische Kommentare, die immerhin noch einen Bezug zum Diskussionsthema haben – führt die Leiter zum bekannteren Trolling: Trolle sind Menschen, die Aufmerksamkeit erregen und Chaos stiften wollen, meist nicht argumentativ in Debatten eingreifen, sondern bloß einen Köder werfen, um Vertreter verschiedener Weltanschauungen gegeneinander aufzuhetzen.
Als weitaus schlimmere Grenzübertretung wertet Vaisman Stalking. Wiederholte unerwünschte Kontaktaufnahme kann wie auch offline als penetrantes Nachstellen empfunden werden: “Wenn es jemanden gibt, der Blogposts immer als erster kommentiert, in Facebook unter jedes Update zuerst auf ‘Like’ klickt und immer den ersten Retweet versendet, dann ist das zwar nicht verboten, für die Betroffenen aber höchst unangenehm, weil sie ständig das Gefühl haben, jemand beobachtet in Echtzeit jeden Schritt, den sie virtuell setzen.” Auf der vorletzten Stufe platzierte Vaisman Cyberbullying – die systematische Verleumdung einer Person oder Gruppe, die sogar schlimmer sein kann als ihr Pendant im Real Life: “Das Mobbing am Schulhof oder im Büro hört mit der Schlussglocke oder dem Feierabend auf, diverse Hassgruppen auf Facebook sind aber rund um die Uhr erreichbar und auch für jedermann außerhalb von Schule oder Arbeit einsehbar.”
Als Kapitalverbrechen im Internet bezeichnet Vaisman schließlich die “virtuelle Vergewaltigung“. Der Begriff “Vergewaltigung” als Schädigung der Person sei laut der Sozialwissenschafterin durchaus auch hier angebracht, “denn wir leben nicht nur offline, sondern auch online und die Online-Persönlichkeit besteht nicht neben, sondern als Teil unserer Persönlichkeit. Wenn nun jemand ein gefälschtes Profil von jemandem erstellt oder das richtige hackt, dort Telefonnummern, rufschädigende Bilder oder wahre oder falsche Aussagen über die sexuelle Ausrichtung oder Meinungen des Betroffenen veröffentlicht, dann ist das ein Missbrauch der Persönlichkeit, die tiefe Spuren hinterlässt. In letzter Zeit haben solche Aktionen nicht nur zu vermehrten Anzeigen, sondern sogar zu Selbstmorden geführt.” Hier würde laut Vaisman am deutlichsten sichtbar, welch zweischneidiges Schwert die “Macht zu veröffentlichen” ist. Während früher Professionisten für die publizierten Inhalte einstehen mussten, habe es heute jeder Achtjährige in der Hand, vor einer qualifizierten Öffentlichkeit eine Verleumdungskampagne gegen seinen Lehrer zu starten.
Warum aber gehen die Menschen in Kommentaren, Foren und Facebook derart grob miteinander um? Der erste Gedanke führte Vaisman zur Annahme, dass die vermeintliche Anonymität dafür verantwortlich sein könnte. Doch in den letzten Jahren zeigte das Klarnamensystem auf Facebook, dass viele Menschen auch unter Angabe ihrer vollen Identität vor Hassbekundungen nicht zurückschrecken. Vaismans finale These fußt in einer technischen und gleichzeitig biologischen Begründung: der Mittelbarkeit des Mediums. Weil wir uns nicht persönlich gegenüberstehen, sondern alleine vor dem Computer sitzen, falle eine Barriere, die laut Vaisman auch bei Skype zu spüren ist: Man sieht sich zwar von Angesicht zu Angesicht und kann Gestik und Mimik des Gegenübers einschätzen, trotzdem fehle online immer eine gewisse Authentizität zur persönlichen Kommunikation. So würden manche User mit vollem Namen andere diffamieren, selbst wenn sie ihnen am nächsten Tag im Büro begegnen – und sich dort nicht trauen würden, die Beleidigungen persönlich zu wiederholen. Dieser Graben würde laut Vaisman auch die Reaktionen auf die Absichten eines 19-Jährigen erklären, der 2008 über ein bekanntes Streaming-Portal seinen Selbstmord ankündigte und vor laufender Webcam vollzog: Während die meisten, wenn sie persönlich Zeuge eines Suizidversuchs wären, die Polizei anrufen würden, sahen im Internet 1.500 Menschen zu, von denen nicht wenige den jungen Mann aufforderten, den Schlussstrich unter sein Leben zu setzen.
(Quelle: Der Standard v. 24.06.2011; Image src:PsychologyToday.com)