Narzissmus bzw. “Selbstliebe” ist grundsätzlich eine wichtige Basis unserer Persönlichkeit: er treibt uns dazu an, uns um uns selbst zu kümmern. Als pathologische, schwere Persönlichkeitsstörung wird er nur dann betrachtet, wenn er schädigend wirkt – entweder für andere oder die Betreffenden selbst. Tatsächlich ist es keineswegs immer nur die Umwelt, die unter dem Narzissmus Einzelner zu leiden hat: manche Narzissten neigen dazu, sich selbst zu sehr zu “verwöhnen” – sie leben über ihre Verhältnisse, irgendwann aber bricht ihre Welt zusammen und Schulden, körperliche Krankheiten oder andere durch den Ressourcenmißbrauch verursachte Probleme holen sie ein.
Die Grundlage krankhaften Narzissmus’ ist ein schwaches Selbstwertgefühl, auf dessen Basis die betreffenden Personen – gewissermaßen überkompensierend – Grandiositätsgefühle entwickeln, ihre Fähigkeit zur Empathie dagegen nicht ausreichend ausgebildet wird. Es ist deshalb schwierig für sie, die Gründe der Handlungen anderer nachzuvollziehen, viel stärker bewegen sie die Auswirkungen dieser Handlungen auf sich selbst, etwa, wenn ihnen jemand bestimmte “Probleme bereitet”. Meist hört man dann lautstarke Klagen darüber, warum sich die andere Person nicht so verhalten hat, wie der Narzisst sich dies erwartete, und es kann keine Ruhe mehr gefunden haben, bis die Hindernisse aus dem Weg geräumt wurden oder “Gerechtigkeit” wiederhergestellt ist.
Die Größengefühle und die enorme Bedeutung, die das Umsetzen ihrer Ideen, Absichten und Ziele für sie hat, können jedoch auch zu einer massiven Last werden. Personen, die ihre Position in Frage stellen oder auch die Möglichkeit eines Zusammenbrechens ihrer Konstrukte stellen eine latente Bedrohung dar. Auch natürliche Vorgänge wie das Altern oder strukturelle Veränderungen werden als bedrohlich empfunden: denn wenn das Selbstwertgefühl nicht mehr so einfach wie früher durch Macht und Einfluss gestärkt werden kann oder altersbedingt geistige Ressourcen, Kraft und Leistung (bei Männern insbesondere auch die Potenz) nachlassen, sind schmerzvolle Anpassungsprozesse erforderlich, mitunter erfolgen mentale Zusammenbrüche, Suchtverhalten oder Depressionen mit Suizidgedanken stellen sich ein.
Die Wurzeln der narzisstischen Störung liegen wie bei den meisten anderen psychischen Störungen auch in der Kindheit. Die US-Journalistin Jean Liedloff, die bei einem südamerikanischen Stamm gelebt hat, thematisiert in ihrem Buch “Auf der Suche nach dem verlorenen Glück” (siehe Link unten) den Verlust des narzisstischen Gefühls “Ich bin etwas wert” in der westlichen Welt. Beim Stamm der Yequana werden die Babys ein Jahr am Körper herumgetragen, schlafen bei den Eltern, Tadel oder mahnende Worte gibt es nicht. Die Kinder erhalten damit eine gute und stabile Selbstwertbasis, die sich auf körperlicher Ebene mit der Muttermilch vergleichen ließe, die das Immunsystem des Babys stärkt.
Zurückweisung oder Kritik dagegen erlebt ein Kleinkind als narzisstische Kränkung – erfährt es zuviel davon, kann sich eine destruktive Dynamik entwickeln. Häufig versuchen solche Kinder später, die Zurückweisung anderer mit besonderem Ehrgeiz oder anderen Kompensationsversuchen auszugleichen. Dies könnte erklären, wieso kleine Männer besonders häufig in Machtpositionen zu finden sind. Vor dem Hintergrund des Werteverlusts in der westlichen Gesellschaft wiederum könnten zahlreiche Facetten der westlichen Kultur, etwa die bei vielen beliebte Selbstdarstellung in den sog. “sozialen Netzwerken”, oder Aspekte der Fitneß- oder Selbstfindungs-Bewegung, als narzisstische Kompensationsversuche gedeutet werden.
Kann das vorhandene Selbstwertgefühl besonders starke “narzisstische Kränkungen” (etwa einen Verlust des Arbeitsplatzes und eine kurz darauffolgende Trennung) nicht verarbeiten, kann die Störung ins Pathologische kippen und sich in Gewalttätigkeit, Amokläufen, Somatisierungen (psychosomatische Erkrankungen), Sucht oder Depression manifestieren. Diese Symptome können gewissermaßen als Ventil gesehen werden, über die sich der Schmerz einer nicht verarbeitbaren psychischen Verletzung entlädt.
Der Narzisst – und die anderen
Narzissten sind häufig entweder Einzelgänger (da sie sich von potenziellen Beziehungspartnern gebremst fühlten oder schlicht kein Interesse haben, ihr Leben mit einer anderen Person zu teilen) oder aber es treffen sich zwei Narzissten, die gemeinsam ihren jeweiligen Zielen nachjagen, emotional aber nur in sehr begrenztem Ausmaß Intimität zueinander herstellen können. Manchmal wird geliebt, um selbst geliebt zu werden – oder das “Haben” einer Beziehung ist im Grunde wichtiger als der Partner selbst. Man lebt nebeneinander her, vom Partner wird in erster Linie Anerkennung und Respekt erwartet sowie Toleranz für die mitunter weit in die Abende oder Nächte dauernden beruflichen und Hobby-Aktivitäten.
In der Arbeitswelt und im Freundeskreis wirken Narzissten häufig souverän, eloquent bis schillernd-charismatisch. Wesentliche Teile des betreffenden Verhaltens sind jedoch mehr oder weniger bewußte Selbstdarstellungen und Inszenierungen, und der Eindruck der Souveränität und Sicherheit ist ein gewollter, ja gesuchter. Wird die eigene Grandiosität überschätzt, kann dies schlimme Folgen haben: etwa wenn beim Einstellungsgespräch ein guter Eindruck erzeugt wurde, später aber durch tatsächliche Inkompetenz Probleme für den Arbeitgeber entstehen. Das starke Streben vieler Narzissten nach Top-Positionen, Inszenierung und Aufmerksamkeit ist besonders dann problematisch, wenn diese Personen über Macht und Einfluß verfügen: aufgrund ihres Mangels an Empathie gehen sie gewissermaßen “über Leichen”, um ihre Ziele zu erreichen und unterschätzen (oder ignorieren) die Folgen ihres Handelns.
Über den Weg einer Psychotherapie kann es Narzissten gelingen, ihre Lebenszufriedenheit signifikant zu erhöhen und zu einem achtsameren Umgang mit sich selbst und anderen zu finden – auch wenn bestimmte Grundzüge besonders ausgeprägter narzisstischer Persönlichkeiten nur schwer oder gar nicht veränderbar sind.
Buchtipps:
Jean Liedloff, “Auf der Suche nach dem verlorenen Glück” – Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit
Telfener / Liebl, “Hilfe, ich liebe einen Narzissten” – Überlebensstrategien für alle Betroffenen
Wardetzki, B., “Eitle Liebe” – Wie narzisstische Beziehungen scheitern oder gelingen können
Behary / Kierdorf / Höhr, “Der Feind an Ihrer Seite.” – Wie Sie im Umgang mit Egozentrikern überleben und wachsen können
Berschneider, W.: “Wenn Macht krank macht” – Narzissmus in der Arbeitswelt
Bergmann, W.: “Ich bin der Größte und ganz allein” – Die innere Not unserer Kinder: Der neue Narzissmus unserer Kinder
Wardetzki, B.: “Weiblicher Narzißmus” – Der Hunger nach Anerkennung
Lena Reply
Toller Artikel! LG