Als hätte das Volk der Hiobsbotschaften noch nicht genug, läßt die deutsche Tageszeitung “Die Welt” mit einer neuen Schreckensmeldung aufhorchen: mindestens 400.000 Deutsche und 40.000 Österreicher (größtenteils sind Männer gemeint) sollen Internetsexsüchtig sein. Noch schlimmer, so wird ein bisher eher in anderen Forschungsrichtungen aufgefallener, nunmehr aber offenbar Internetsexsucht-“Experte” zitiert: “Viele Männer können kaum mehr alleine vor einem Computer sitzen, ohne auf einschlägigen Seiten zu suchen.” Die im Internet mögliche Anonymität mache Pornografie weniger stigmatisierend und führe zu einer Art Klebeeffekt. “Nicht immer, aber leider sehr häufig verlangen die User immer intensivere Reize und wechseln so von Softporno über Hardcore zu Gewalt- und schließlich Vergewaltigungspornos”, so der österreichische Psychíater R. Bonelli im Interview.
Nur gut, dass es da eine einschlägige Fachtagung vor Ort gibt, die als Ergebnis wohl verkünden wird, dass die Betroffenen therapiert werden müssen, am besten von den einschlägigen Experten. Zur Verstärkung des Gänsehaut-Effekts schließt man gerne auch an aktuelle Aufreger-Themen an: “[Internetsexsucht] hat durch die neu aufgebrochene Pädophilie-Diskussion an zusätzlicher Aktualität gewonnen; und [das Internet hat] der Kinderpornographie zusätzlichen Spielraum eröffnet.”
“Bei der Internetsexsucht handelt es sich genauso wie bei der Sexsucht generell um eine verdrängte, stille und heimliche Sucht, die zu den Schamsüchten zählt.” Was auch immer unter diesem Begriff zu verstehen ist. Jene, die glauben, das Problem durch Psychotherapie oder gar im Alleingang bewältigen zu können, werden im Artikel von einem anderen Psychiater eines besseren belehrt: “Der übermäßige Konsum sexueller Inhalte im Netz ist als substanzungebundene Sucht zu verstehen, die zeitweise das Regulativ des Frontalhirns ausschaltet. Das rasche Abflauen der Erregung fordert im typischen Fall eine ständige Impulsverstärkung, sowohl quantitativ als auch mit einer Intensivierung der Inhalte (Brutalität und Perversion).” Doch für das Ein- oder Ausschalten von Hirnbereichen benötigen wir, das wird von der Pharmaindustrie, der Genforschung und der Psychiatrie ja seit Jahren nimmermüde repetiert, Medikamente oder (bislang glücklicherweise aber nur in den schlimmsten Fällen!) sog. “Hirnschrittmacher”.
Da haben wir es also: wenn sich das “böse Internet” (wo nur mit totaler Überwachung und staatsseitigen, selektiven Sperren und Filtern den schlimmsten Gefahren beizukommen ist) und Pornografie (sämtliche Erklärungen überflüssig) sich vereinen, landet man womöglich bei den gefürchtetsten aller Berufsgruppen: Therapeuten oder Psychiatern.
Meinerseits möchte ich mich von der Medialisierung und Kommerzialisierung dieses Themas (gerade auch durch Fachärzte und Ausbildungsinstitutionen, die doch eigentlich für fachlich fundiertere Diagnostik stehen sollten) sowie den moralisierenden Untertönen, die sich in die Beschreibung der Symptome gegenüber sog. “gesunder” oder “normaler” Sexualität und Partnerschaft mitschwingen, entschieden abgrenzen. Wir benötigen keinen neuen Suchtbegriff, und es ist niemandem (außer den Selbstvermarktungsspezialisten selbstverständlich) geholfen, wenn hunderttausende Menschen per Fachkommentar pathologisiert werden.
Wir haben als sehr hilfreiches Klassifikationskriterium das der “nicht substanzgebundenen Abhängigkeiten” (in Unterscheidung zu den “Psychischen und Verhaltensstörungen durch psychotrope Substanzen” gem. ICD-10, und nach bereits sehr umfangreicher Forschungsarbeit das der sog. “Internet-Abhängigkeit” (bzw. wie ich 2000 vorschlug, der “Abhängigkeit von Neuen Medien“). All diese Begriffe sind weit genug gesteckt, um sämtliche Devianzen von einem “normalen” (i.S. eines nicht schädlichen und vor allem frei regulierbaren) PC- oder Internet-Gebrauch zu beschreiben. Ob jemand pornografisches Material aus dem Internet herunterlädt, mit Freunden tauscht oder “physisch” kauft, ist aus fachlicher Sicht (von dynamischen Faktoren abgesehen) relativ unbedeutend: wir sprechen ja auch nicht von einer “Haltestellen-Heroinsucht”, nur weil die Droge besonders häufig und leicht in U-Bahn-, Bus- und Bahnstationen erworben wird. Darüber hinaus ist der Konsum von Pornografie, wie auch jüngste Studien (siehe Quellenverweise unten) wieder bestätigen, per se weder für die Konsumenten selbst, noch für deren Beziehungen sonderlich “gefährlich”. Problematisch wird er erst dann, wenn eine zwanghafte Komponente hinzukommt, also der Konsum von Pornografie von den Betroffenen kaum mehr reguliert werden kann, wenn andere Lebensaspekte darunter leiden (häufig sind dies z.B. berufliche Verpflichtungen, die häusliche Organisation, soziale Kontakte oder die Partnerschaft dadurch gefährdet wird), und zusätzlich soziale Isolation, Entzugssymptome wie Streß oder Spannungsphasen oder auch als Parallsymptomatik Depressionen diagnostizierbar sind. Dann allerdings ist “Feuer am Dach”, und es sollte im Interesse einer Wiederfindung des psychischen Gleichgewichts therapeutische Unterstützung – möglichst bei Psychotherapeuten, die über Erfahrung in der Suchtbehandlung verfügen – gesucht werden.