Dies ist ein “Sammeleintrag” ähnlich meinen Blog-Einträgen zu den Themen “Partnersuche” oder “Suizid“, in dem ich Forschungsergebnisse zum Autismus-Spektrum (davon insbesondere auch dem Asperger-Syndrom) zusammentrage. Falls Ihnen einschlägige Studien bekannt sind, die hier noch nicht gelistet sind, füge ich sie nach einer kurzen E-Mail gerne hinzu.
ASD (Autism Spectrum Disorder) ist der Name für eine bestimmte Gruppe von Verhaltens- und Entwicklungsstörungen, die das Sozialverhalten und die Kommunikation der Betroffenen beeinflussen. Sie werden durch seltene genetische Varianten verursacht, die beeinflussen, wie das Gehirn wächst und sich entwickelt. Gerade im psychotherapeutischen Bereich stigmatisiert man Menschen heute nur mehr ungern verallgemeinernd als “Autisten”, sondern verortet sie eher in ihrer individuellen Ausprägung auf dem gesamten, breit gelagerten Spektrum dieser Störungssymptomatik.
Zur Einleitung möchte ich einige häufige Grundannahmen sowie den tatsächlichen therapeutischen Wissensstand zum Thema Autismus anführen. Sie basieren auf einem Interview mit Dr. Peter Szatmari, einem der führenden Autismus-Forscher in Kanada.
MYTHOS: “Es gibt immer mehr Autisten.”
FAKT: Die Prävalenz von Menschen, die mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum diagnostiziert wurden, nahm seit Mitte der 1980er-Jahre etwa um das Zehnfache zu – vermutlich jedoch vor allem deshalb, weil sich seither die diagnostischen Kriterien veränderten, und auch ein stärkeres Wissen im medizinischen und therapeutischen Bereich über die Erscheinungsformen von Autismus-Störungen in unterschiedlichen Altersstufen existiert. Es gibt keine Hinweise auf Umweltfaktoren, die für den Anstieg der Häufigkeit verantwortlich sein könnten (siehe auch: http://www.heise.de/tp/news/USA-Starker-Anstieg-von-Autismus-bei-Kindern-2006864.html )
MYTHOS: “Impfungen verursachen Autismus.”
FAKT: Es gilt heute als absolut gesichert, dass Autismus nicht durch Impfstoffe verursacht wird. Die erste und bislang einzige “wissenschaftliche” Studie, die zu diesem Thema veröffentlicht wurde, wurde widerlegt. Die darin getroffene Behauptung wurde als betrügerisch erkannt und wird z.T. juristisch verfolgt. In einigen Regionen wurden dennoch jene Wirkstoffe, die angeblich Autismus hätten verursachen sollen, aus den Impfstoffen entfernt, was aber die Zahlen der Autismus-Diagnosen nicht beeinflußte.
Einen PT-Blog-Eintrag zu diesem Thema finden Sie auch hier: https://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/autismus-impfschaeden/ .
MYTHOS: “Erziehungsfehler sind der Grund für Störungen aus dem Autismus-Spektrum.”
FAKT: Dieser Mythos stammt aus qualitativ sehr schlechten Forschungsansätzen der 1950er-Jahre (z.B. Bruno Bettelheim), wurde aber bereits in den 1960er-Jahren weitgehend widerlegt. Es gibt absolut keinen Beweis dafür, dass schlechte Erziehung oder schlechte Eltern-Kind-Beziehungen Autismus verursachen. ASD wird durch genetische Faktoren verursacht, möglicherweise mit Umweltfaktoren in utero kombiniert.
MYTHOS: “Nur Jungen können Autismus haben.”
FAKT: Das Geschlechterverhältnis bei dieser Art von Störung ist in etwa 4 Jungen zu 1 Mädchen. Mädchen können ebenso wie Jungen an ASD erkranken, sind aber häufig stärker betroffen als diese. Das könnte an der teils unterschiedlichen Symptomatik liegen, welche die korrekte Diagnose häufig verzögert. Wegen dieser Schwankungen sollten die diagnostischen Kriterien für Mädchen angepasst werden.
MYTHOS: “ASD kann mit einer Diät oder andere alternativen Behandlungen geheilt werden.”
FAKT: Ob Autismus “geheilt” werden kann oder nicht, ist umstritten – es gilt jedoch als gesichert, dass Kinder mit ASD bessere Fortschritte erzielen können, wenn sie z.B. früher und intensiver Förderungsmaßnahmen erfahren.
MYTHOS: “Menschen mit ASD haben verkümmerte Gefühle und knüpfen nicht gerne Kontakte.”
FAKT: Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen fühlen sehr wohl Emotionen und möchten auch Kontakte knüpfen, aber ihre Kommunikation und der Ausdruck ihrer Gefühle ist untypisch und wird in seiner Art von anderen häufig als schwierig empfunden. Auch ist der Kontaktwunsch häufig nicht so intensiv wie bei regulär entwickelten Kindern und Erwachsenen.
MYTHOS: “Autismus verleiht den Betroffenen spezielle Fähigkeiten oder macht sie genial.”
FAKT: Diese Vorstellung stammt aus älteren Forschungen, die suggerierten, daß viele Autismus-Betroffene trotz stark reduzierten Sprachausdrucks oder kognitiver Behinderungen ein fantastisches Gedächtnis oder z.B. ein überdurchschnittliches Zeichen- oder Rechentalent hätten. Für eine kleine Minderheit von Autismus-Spektrum-Störung-Betroffenen stimmt das, aber wäre treffender, diese Fähigkeiten als starke Teilleistungsstärken zu sehen, statt sie als “Genialität” zu bezeichnen. Die Definition eines Genies erfordert einen IQ von über 120, der bei Autismus-Betroffenen leider weitaus weniger wahrscheinlich ist als in der Durchschnittsbevölkerung.
MYTHOS: “Autistische Kinder sollten in speziellen Programmen gezielt gefördert werden.”
FAKT: Kinder mit ASD profitieren von Interaktionen mit alterstypisch entwickelten Kindern, weil dies ihre sozialen und kommunikativen Fähigkeiten verbessert und ihre eigenen wiederholenden Spielmuster reduziert. Die Behandlungsempfehlung ist heute, Kinder nach Möglichkeit im Bildungs-Mainstream zu halten und sie nur unter außergewöhnlichen Umständen und für kurze Zeiträume aus diesen herauszuziehen. Kinder mit Autismus-Störungen benötigen allerdings besondere Bildungspläne, die ihre Behinderung berücksichtigen.
MYTHOS: “Man sollte versuchen, wiederholende Verhaltensmuster autistischer Kinder zu stoppen.”
FAKT: Wichtig ist es, die Funktion dieser Verhaltensmuster zu verstehen. Diese kann z.B. im Überwinden von Langeweile bestehen, aber auch Stress oder ein Spielbedürfnis ausdrücken. Ziel der Behandlung ist in diesem Bereich, das sich wiederholende Verhalten in Richtung eines mehr entwicklungsförderlichen und typischen Spiels zu ändern. Es geht also um die Veränderung der Ursachen der Verhaltensmuster statt darum, lediglich das gezeigte Verhalten zu verändern.
MYTHOS: “Kinder mit Autismus können nicht selbständige Erwachsene werden.”
FAKT: Die Bandbreite der Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder mit Asperger-Syndrom ist enorm. Viele Kinder mit Autismus-Spektrum-Störungen können als Erwachsene unabhängig leben, arbeiten, enge Freundschaften entwickeln, auch romantische Beziehungen. Es ist zwar wahrscheinlich, dass die meisten Erwachsenen mit derartigen Störungen immer irgendeine Art von Unterstützung benötigen, doch kann dies oft in größeren Abständen erfolgen (z.B. regelmäßige Psychotherapie in ambulantem Rahmen). Viele Autisten dagegen benötigen spezielle Vollzeitbetreuung, aber auch hier gibt es die gesamte Bandbreite vom klinischen Kontext bis zu Services, wie sie in jeder größeren Stadt zur Verfügung stehen (z.B. betreutes Wohnen, Integrations-Arbeitsplätze etc.).
Noch einige weitere Fakten zum Thema Autismus:
- Empathie-Defizit könnte Trugschluss sein: Autisten sind möglicherweise im Umgang mit negativen Gefühlen anderer schlichtweg überfordert und schotten sich daher ab (Presseartikel, Studie “From shared to distinct self–other representations in empathy: evidence from neurotypical function and socio-cognitive disorders”)
- Die neuronalen Störungen von Autisten könnten reversibel sein: https://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/neuronale-stoerung-autismus/
- Studien zur Geburtsreihenfolge, dem Alter der Eltern und dem sich dadurch offenbar ändernden Autismus-Risiko: https://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/autismus-risiko-ursachen/
- Autisten scheinen besseres Sehvermögen aufzuweisen: https://www.psychotherapiepraxis.at/pt-blog/autismus-sehschaerfe/
Quellen: Debunking Autism Myths, 11/2015
Image sources: sciencebasedmedicine.org (brain)
Paul Becker Reply
Spannend finde ich den Punkt “Impfungen”. Hatte gerade vor einigen Tagen mit einer Bekannten eine Diskussion dazu und sie war fest davon überzeugt, vorsichtig bei Impfungen zu sein, weil man damit eben jene Störung hervorrufen kann. Völliger Mist! Naja es geistert eben überall sehr viel Halbwissen umher. Danke für die gute Übersicht!