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queenoftheuniverse
Helferlein
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Post Tue, 28.Oct.03, 19:16      Stumme Zeugen (eine Kurzgeschichte) Reply with quoteBack to top

Stumme Zeugen

Ohne ein Wort stand ich auf und ging. Das war zuviel. So ließ ich mir nicht in mein Leben reinreden. Auch wenn die Einmischung noch so banal war. „Trink nicht soviel“, hatte er gesagt, als ich gerade den zweiten Drink bestellen wollte. Was bildete er sich eigentlich ein? Er war nur mein Freund, nicht mein Vater.
Ich konnte noch hören, wie er hinter mir her schrie, ich solle stehen bleiben. Doch das verstärkte meinen Fluchtimpuls nur. Raus aus der Bar und einfach nur weg. Die so plötzlich entstandene Wut gab genug Antrieb um einfach nur zu rennen. Also rannte ich, während mein Kopf zu explodieren drohte.
„Es ist mein Leben. Meines. Nicht seines. Ich entscheide. Ich ganz allein. Nicht er. Nicht er...“
Ich wollte mich nicht so aufregen. Nein, das wollte ich wirklich nicht. Doch zwischen dem, was ich wollte, und dem, was ich tat, hatte schon immer eine unüberwindbare Kluft bestanden.
Ich stieg in den nächsten Bus, der mich nach Hause bringen sollte. Ich war meiner Wut fast völlig ausgeliefert. Sie kontrollierte mich. Wären nicht so viele Leute im Bus gewesen, hätte ich laut geschrieen.
Zu meiner Wut kam ein neues Gefühl hinzu. Ich war sauer. Stinksauer auf mich selbst. Wieso hatte ich nicht genügend Selbstbeherrschung besessen und war einfach neben meinem Freund sitzen geblieben? Warum war ich so feige gewesen und war einfach davongerannt? Ich zermarterte mir mein Gehirn an diesen inneren Widersprüchen.
Zu Hause angekommen wurde der Druck in meinem Kopf zu stark. Ich konnte mich nicht mehr spüren, so sehr wurde ich von dem Streit in meinem Kopf gefangengenommen. Die eine Stimme beschimpfte meinen Freund und rechtfertigte die Flucht. Die andere schrie mich an, für meine Feigheit und Unfähigkeit zur Konfliktlösung. Und die Stimmen wurden zusehends lauter. Denn keine der beiden dachte auch nur daran, aufzugeben, bis die andere ihre Sicht der Dinge übernommen hatte.
Doch ganz hinten in meinem Kopf begann leise eine weitere Stimme zu reden. Sie wollte, dass die andern beiden aufhörten, dass sie endlich ruhe gaben. Und auch sie wurde immer lauter, bis sie schließlich die andern beiden übertönte.
Sie war es, die mir befahl, die Klinge zu nehmen, um die andern Stimmen zum Schweigen zu bringen. Um meinen Kopf davor zu bewahren, endgültig zu platzen. Um mir zu helfen, mich wieder am Leben zu fühlen. Und ich gehorchte ihr. Ohne Widerspruch. Denn dazu fehlte mir die Kraft.
Ich holte eine frische Klinge aus der Schublade, setze mich auf mein Bett und begann, mir neue Schnitte an meinem Arm zuzufügen. Schnell ließ ich die Klinge mit starkem Druck über die Haut gleiten. Wieder und wieder und wieder... Bis das aus den Wunden quellende Blut den ganzen Arm bedeckte und bereits anfing daran herunterzulaufen.
Das einzige, was ich spürte, war Erlösung. Ich fühlte keinen Schmerz. Und was viel wichtiger war: Die Stimmen in meinem Kopf hatten aufgehört zu streiten. Es war endlich Ruhe.
Ich spürte, wie langsam wieder Leben in meinen Körper kam, während ich dabei zusah, wie das Blut immer weiter floss. Doch es hatte etwas sehr beruhigendes dabei zuzusehen.
Noch lange blieb ich so sitzen und starrte auf meinen roten Arm, bis schließlich die Wundheilung einsetzte und dafür sorgte, dass die Blutung langsam stoppte.
Befreit von all dem Chaos –wenigstens für einen Augenblick- ging ich ins Badezimmer, um die Wunden zu versorgen.
Zurückbleiben würden Narben als stumme Zeugen meiner inneren Verzweiflung. Und sie würden nicht lange allein bleiben.

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