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undertaker007
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Post Sun, 21.Jan.07, 17:07      Reaktive / Endogene Depression, Symptombeseitigung? Reply with quoteBack to top

hallo!

eine frage:
Gibt es Kriterien, nach denen man möglichst eindeutig als Patient "reaktive" und "endogene" Depressionen erkennen kann?
Einige kenne ich ja schon: "Morgengrauen", Abendbesserung, Gewichtsverlust, Gedankenkreisen, Schuldgefühle, Vergangenheitsbezogenheit, etc.-> endogen
Viele Merkmale davon treffen aber auch auf Reaktive Depressionen zu - wo gibt es hier eine Grenze - wann kann es sein, dass ich mit einer gleichzeitigen Psychotherapie besser beraten wäre,
da vielleicht Medikamente nur die Symptome verdecken?

Ich habe selbst schon 6 Monate Psychotherapie gemacht, mit dem (inoffiziellen) Ergebnis, dass, sobald die Stimmung sich normalisiert hat (durch SSRI), es nicht mehr viel zu bereden gibt -
werden die Probleme durch ADs vielleicht weggeschoben oder wäre trotz Medikation "nicht wieder alles in Butter" wenn psychotherapeutischer Handlungsbedarf bestünde?
Verzeiht bitte, es hört sich vielleicht wie Haarspalterei an, aber es geht mir darum, nicht medikamentös Selbstheilungsprozesse zu verhindern - das will ich nicht.

lg david
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r.l.fellner
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Post Sun, 21.Jan.07, 19:30      Re: Reaktive / Endogene Depression, Symptombeseitigung? Reply with quoteBack to top

Hallo undertaker,

nun, "reaktive" sagt ja eigentlich schon viel aus - es handelt sich um depressive Reaktionen auf äußere Ereignisse (Ereignisse, die aber gar nicht bewußt sein, und nicht notwendigerweise auch punktuelle Ereignisse sein müssen, sondern auch lange, chronische Lebenssituationen sein können). All dies schränkt wiederum die Möglichkeiten eines Patienten ein, das an sich selbst "diagnostizieren" zu können.

Das Konzept einer "endogenen" Depression im Sinne eines genetischen "Zwangs" zur Depression ist in Medizinerkreisen beliebt, jedoch wird heute außerhalb des symbiotischen Systems Medizin <-> Pharmaindustrie vermutet, dass weitaus weniger Depressionen von "endogener" Natur sein dürften als oft proklamiert wird.

Ihrer Vermutung einer trügerischen "Verzerrung" der Selbstwahrnehmung durch die Einnahme von SSRI's kann ich weitgehend zustimmen. Vielleicht ist für Sie mein Artikel zur Depression von Interesse (siehe Link "Artikel" ganz oben im blauen Balken).
Einen wirklichen Therapieerfolg von Depression kann man meiner Überzeugung nach erst dann seriös behaupten, wenn begonnen wurde, die AD's zu reduzieren, und von Heilung läßt sich erst dann sprechen, wenn die Psyche auch völlig ohne AD's/SSRI's in der Lage ist, mit den depressionsauslösenden Impulsen auf adäquate Weise umzugehen. Alles andere ist lediglich Symptomreduktion - vergleichbar mit der Einnahme eines Schmerzmittels bei einem gebrochenen Arm.

Freundlichen Gruß
R.L.Fellner

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undertaker007
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Post Sun, 21.Jan.07, 22:49      Re: Reaktive / Endogene Depression, Symptombeseitigung? Reply with quoteBack to top

r.l.fellner wrote:

Ihrer Vermutung einer trügerischen "Verzerrung" der Selbstwahrnehmung durch die Einnahme von SSRI's kann ich weitgehend zustimmen. Vielleicht ist für Sie mein Artikel zur Depression von Interesse (siehe Link "Artikel" ganz oben im blauen Balken).
Einen wirklichen Therapieerfolg von Depression kann man meiner Überzeugung nach erst dann seriös behaupten, wenn begonnen wurde, die AD's zu reduzieren, und von Heilung läßt sich erst dann sprechen, wenn die Psyche auch völlig ohne AD's/SSRI's in der Lage ist, mit den depressionsauslösenden Impulsen auf adäquate Weise umzugehen.
R.L.Fellner


Naja, angeblich soll der Anteil an definitiv endogenen Depressionen - ich benutze diese Formulierung, auch wenn sie überholt ist - im klinischen Bereich "nur" 20 Prozent sein.
Also weit geringer als von der Pharmaindustrie immer postuliert wird. Die Vererbungswahrscheinlichkeit bei einem erkrankten Verwandten ersten Grades beträgt auch nur 10-15 Prozent.
Angeblich sprechen jedoch rein stoffwechselbegründete Depressionen am besten auf Psychopharmaka an - wenn die Depression tatsächlich durch neurotische Verhaltensweisen oder als Reaktion auf bestimmte Ereignisse entstanden ist, dürften diese nicht so gut auf ADs reagieren - so zumindest der offizielle Standpunkt der Psychiatrie.
Die Frage ist, wieviel mit dem künstlich erhöhten Serotoninspiegel, der auch nur ein Glied in der Kette ist, einfach beiseite geschoben wird (die Wurzel der Depression liegt wahrscheinlich einfach an einem überreagierenden Angstzentrum, das in der Folge die Neurotransmitter-/Serotonin-Level senkt und Stresshormone ausschütten lässt - die Psyche befindet sich in einem Zustand von Dauerstress und Angst, die Neurotransmitter werden wahrsch. erst dadurch herabreguliert).
Dass SSRIs nur Menschen helfen, die depressiv sind und anderen nichts ausser Nebenwirkungen bringen, ist ebenso falsch, sonst könnte man den Erfolg von Prozac nicht erklären.
Sie verhindern einfach die extreme und gefestigte Form eines Stimmungstiefs und durch den künstlich erhöhten Serotoninspiegel aber auch normale Stimmungsschwankungen, die natürlich sind.
Starke SSRIs die auch viele Rezeptoren blockieren, wie Paroxetin, schotten damit auch irgendwie emotional ab, ich fühlte mich dadurch unnatürlich emotional stark und unantastbar, wurde aber auch unsensibel und ein ziemlicher Gefühlsfels.
Gut in der Akutphase, aber auf lange Zeit? Nein, danke.

Aber dem Vergleich mit "gebrochenem Arm" und "Schmerzmittel" kann man natürlich nur bei reaktiven/neurotischen Depressionen zustimmen -
bei einer Depression die von innen heraus kommt, wäre das so als ob man einem Zuckerkranken seine Insulinspritze verweigert.
Dass es davon wirklich viele Fälle gibt, kann ich mir evolutionstechnisch nicht vorstellen, denn warum hätte sich eine rein biologisch begründete Depression in der Entwicklung des Menschen als sinnvoll erweisen sollen?
Depression wird ja oft assoziiert mit der Erstarrung bei Bedrohung und Zurückschalten jegliches Affekts, was in Zeiten der Jäger und Sammler bei Bedrohung durch Raubtiere sinnvoll war - das war aber reaktiv:)...

Die aktuelle Lösung, die Stimmung mit Phasenprophylaktika zu stabilisieren ist ja kein schlechter Ansatz, vielleicht werden da viele Menschen wieder für eine Psychotherapie zugänglich, da sie nicht der "rosaroten Brille" der SSRI entsprechen und alles wieder im Reinen scheint.
Aber: Phasenprophylaktika nehmen nicht nur die Tiefs, sondern auch die Hochs und es kann zu einer Affektverflachung und Gleichgültigkeit kommen, die auf Dauer mindestens ebenso schwer zu ertragen ist.

Zur Diagnose:
Ausgehend von der Erscheinungsform und Art der Depression gibt es also keine echte Möglichkeit, zwischen reaktiv und endogen zu trennen?
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