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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Thu, 12.Oct.06, 1:57 Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo zusammen!
Ich habe vor Kurzem angefangen mich eingehender mit dem Thema Gestalttherapie zu beschäftigen. Dabei heißt es, dass Gestalttherapeuten psychische Störungen gar nicht als Störungen im eigentlichen Sinne betrachten. Ganz im Gegenteil ihrer Meinung nach ist die "psychische Störung" eigentlich eine völlig sinnvolle und gesunde Reaktion auf eine bestimmte Situation. Ein Problem wird die "psychische Störung" nur dann wenn die Situation sich ändert und die Person unfähig ist das entsprechende Verhalten zugunsten eines sinnvolleren Verhaltens aufzugeben. Aus diesem Grund sagen Gestalttherapeuten auch, dass die Klienten das Recht haben in der Therapie zu scheitern, nämlich indem sie ihr "gestörtes" Verhalten als die bestmögliche Variante akzeptieren um mit ihrer Situation umzugehen und sich dementsprechend mit ihrer "Störung" versöhnen.
In einem Buch wurde behauptet, dass die Gestalttherapie erwiesendermaßen eine effektive Therapierungsmethode ist. Trotzdem wird die Gestalttherapie nicht von den Krankenkassen anerkannt. Diesen Widerspruch versuchte man dadurch zu erklären, dass die Gestalttherapie - im Gegensatz zu anderen Therapieformen - kein Interesse daran hat das Funktionieren oder die Integration des Klienten in der Gesellschaft wiederherzustellen. Sie konzentriert sich nur darauf dem Klienten so zu helfen, dass es ihm besser geht, ohne Rücksicht auf gesellschaftliche Ansprüche. Und "Anarchismus gibt es nicht auf Krankenkasse".
Nun drängt sich mir jedoch die Frage auf, ob einige psychische Störungen (einige, nicht alle!) überhaupt als Störungen bezeichnet werden könnten, wenn sie denn nicht aus der Sicht der Gesellschaft betrachtet würden. Ist eine Sozialphobie z.B. an erster Stelle eine Störung des Sozialverhaltens oder ist sie mehr ein Schutz vor Gefühlen von Minderwertigkeit (zumal Angst ja auch in erster Linie eine Schutzfunktion hat)? Betrachtet man vorwiegend die Störung des Sozialverhaltens, dann schaut man in diesem Moment in erster Linie auf die Gesellschaft in der sich die Person mehr oder weniger befindet; betrachtet man auf der anderen Seite vorwiegend den Schutz vor der Minderwertigkeit, so schaut man in erster Linie auf das Individuum, unabhängig von gesellschaftlichen Anforderungen. Die Frage ist warum eine dieser beiden Sichtweisen eher zulässig sein sollte als die andere - meiner Ansicht nach sollten sie vorerst gleichberechtigt bleiben. Doch wenn ich beide Sichtweisen als gleichberechtigt sehe, dann kann ich auch nicht mehr eindeutig von einer Störung reden.
(weiter im nächsten Beitrag...)
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Last edited by Der Suchende on Thu, 12.Oct.06, 2:01; edited 2 times in total |
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Thu, 12.Oct.06, 1:58 Re: Sind ps. Störungen ein Konstrukt der Gesellschaft? |
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Man könnte nun sagen, dass der Leidensdruck des Klienten entscheidend ist um eine Störung festzustellen, doch ich frage mich inwiefern der Leidensdruck nicht auch eine Folge des Stigmas der psychischen Störung ist (wichtig: Ich meine nicht, dass der Leidensdruck eine Folge einer Diagnose ist, sondern dass er z.T. eine Folge der negativen Selbstwahrnehmung ist, die allein durch das Bestehen des Konzeptes der "psychischen Störung" entsteht). Und es stellt sich mir die Frage ob dieser Leidensdruck vielleicht verschwinden würde, wenn man die Sichtweise von "Ich bin gestört" zu "Ich mache auf diese Weise das beste daraus" verändern würde.
Wenn ich nun weiterdenke beginne ich mich zu fragen ob viele psychische Störungen wirklich psychische Störungen sind, oder ob man manchmal einfach nur glaubt, dass es eine psychische Störung ist (weil diese Sichtweise so angelernt wurde) und sie so zu einer selbsterfüllenden Prophezeihung macht. Denn wenn ich mich zurückerinnere, dann fällt mir auf dass ich schon einsam gewesen bin und trotzdem dabei glücklich sein konnte. Unglücklich war ich vor allem wenn ich dachte, dass ich mehr haben könnte oder sollte.
Was meint ihr dazu? Sind wir psychisch gestört, weil es eine Störung in unserer Psyche gibt, oder sind wir psychisch gestört weil wir glauben, dass es so ist und unser Verhalten und unseren Zustand auf diese Weise wahrnehmen und interpretieren? Heilt ein Psychotherapeut vielleicht manchmal gar keine psychische Störung, sondern hilft dem Klienten einfach nur dabei glücklicher zu werden? Schließlich ist man ja nicht gleich psychisch gestört wenn man unglücklich ist, dafür jedoch oft unglücklich wenn man psychisch gestört ist - oder zumindest glaubt dass man es ist.
Würde es uns nicht vielleicht besser gehen wenn wir den Begriff der psychischen Störung ein bisschen mehr auf schwerere Fälle (wie Schizophrenie) verlagern? Ich meine: Der Gedanke, dass man unglücklich ist und etwas ändern sollte klingt aussichtsreicher als der Gedanke, dass man psychisch gestört ist und etwas ändern sollte oder vielleicht sogar muss.
nachdenkliche Grüße
Der Suchende
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Toughy
[nicht mehr wegzudenken]
1312
Dtld W, 29
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Thu, 12.Oct.06, 10:43 Re: Sind ps. Störungen ein Konstrukt der Gesellschaft? |
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Hallo Suchender,
ich bin aufmerksam Deinen Gedankengängen gefolgt, und vieles kommt mir sehr bekannt vor. Dass ein bestimmtes Verhalten z.B. irgendwann mal sinnvoll oder sogar überlebenswichtig war, erkennen m.W. alle Therapieformen an.
Zu dem für mich kniffligen Aspekt:
Der Suchende wrote: | Man könnte nun sagen, dass der Leidensdruck des Klienten entscheidend ist um eine Störung festzustellen, doch ich frage mich inwiefern der Leidensdruck nicht auch eine Folge des Stigmas der psychischen Störung ist (...). Und es stellt sich mir die Frage ob dieser Leidensdruck vielleicht verschwinden würde, wenn man die Sichtweise von "Ich bin gestört" zu "Ich mache auf diese Weise das beste daraus" verändern würde. |
Ich kann nur von mir berichten, und mein Leidensdruck war schon viel, viel früher da, als ich auch nur in Erwägung gezogen habe, gestört zu sein. Das Kind bekam halt einen Namen; es wurde nicht in einen Namen quasi hineingeboren. Wieso sollte irgendein Mensch einen Therapeuten, Psychiater oder sonstwen aufsuchen, bevor er mehr oder minder starken Leidensdruck verspürt?
Da schließt sich dann auch mein Menschenbild an: Ich bin davon überzeugt, dass jeder Mensch immer und grundsätzlich versucht, das Beste aus den/seinen Gegebenheiten zu machen. Der Leidensdruck entsteht meiner Ansicht nach dort, wo man sich auf diese Weise nicht mehr "einrichten" kann. Oder anders ausgedrückt: Dort, wo das Beste, das man zu tun imstande ist, nicht mehr reicht, um zufrieden zu sein und nicht zu leiden.
Das Problem besteht ja auch darin, dass man mit dem von Dir angesprochenen Verhaltensmuster, das mal sinnvoll war, später gerade Situationen erschafft, unter denen man schließlich leidet. Oft ist es so, dass dieses Muster das Einzige ist, das man später zur Verfügung hat und dieses manchmal eben alles andere als sinnvoll ist.
Albert Einstein sagte mal: "Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind." Das Gleiche gilt halt auch für Verhaltensweisen. So reproduziert man also leider immer wieder leidensvolle Situationen.
Und in einer Therapie - auch in einer Gestalttherapie - lernt man neue, zusätzliche Denk- und Verhaltensweisen, derer man sich bedienen kann.
Beispiel Sozialphobie: Natürlich ist das ein Schutz, und früher war der sicher notwendig und auch sinnvoll. Es wird aber dort zum Problem, wo ich mich mit meiner selbstgewählten Einsamkeit nicht mehr gut fühle. Und wie soll ich diese Einsamkeit dann auflösen, wenn ich quasi keine andere Wahl habe, als mich von anderen Menschen zurückzuziehen? Da kann man doch nur dran verzweifeln...?
Eine erfolgreiche Therapie besteht deswegen für mich darin, mehr Möglichkeiten zu haben, wie ich mit bestimmten Situationen umgehe. Wenn ich eine gewisse Wahlfreiheit habe, bin ich nicht mehr dem Diktat einer einzigen Verhaltensweise unterworfen.
Dass das Ganze "Störung" genannt wird, darüber kann man, wenn man will, sicher streiten. Aber der Name ändert m.E. nichts am Leiden.
Die Unterscheidung, die Du befürwortest, gibt es übrigens: Schizophrenie gehört zu den psychischen Erkrankungen.
Ich hoffe, Dich nicht allzu sehr missverstanden zu haben.
Viele Grüße,
Toughy
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_________________ Es ist wichtig, jemanden dort abzuholen, wo er gerade ist. Aber manchmal ist es auch wichtig, jemanden dort zu lassen, wo er gerade sein will. |
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Fri, 13.Oct.06, 2:47 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Toughy!
Freut mich, dass du dir die Mühe gemacht hast meine langen, ermüdenden Gedankengänge nachzuvollziehen!
Quote: | Wieso sollte irgendein Mensch einen Therapeuten, Psychiater oder sonstwen aufsuchen, bevor er mehr oder minder starken Leidensdruck verspürt? |
Das ist aber nicht der Punkt. Einen Leidensdruck darf man ja ruhig verspüren, es geht mehr darum wie man diesen wahrnimmt. Und ich frage mich ob wir uns nicht oft wohler fühlen würden, wenn wir zum Psychotherapeuten gehen würden, weil wir uns nicht wohl fühlen (so wie man es bei einer Krankheit hält: mir gehts nicht gut, ich gehe zum Arzt, mir gehts wieder besser) und nicht weil wir glauben, dass wir psychisch gestört sind (ich gehe zum Psychotherapeuten -> Bei mir stimmt was nicht, ich bin gestört).
Quote: | Das Kind bekam halt einen Namen; es wurde nicht in einen Namen quasi hineingeboren. |
Nun frage mich ob ein anderer Name nicht heilsamer gewesen wäre.
Quote: | Es wird aber dort zum Problem, wo ich mich mit meiner selbstgewählten Einsamkeit nicht mehr gut fühle. |
Wenn diese Einsamkeit selbstgewählt wäre, dann wäre diese Person aber schon an einem späteren Punkt. Ich dachte mir das eher so:
Eine Person ist einsam und leidet darunter. Schließlich wird ihr Leid so groß, dass sie überlegt ob eine Psychotherapie für sie in Frage kommt. Sie stolpert über Begriffe wie "Sozialphobie" und sieht ein, dass sie vielleicht psychisch gestört sein könnte und beschließt darum eine Psychotherapie in Angriff zu nehmen.
Nun frage ich mich ob dieses Auferlegung des Stigmas der psychischen Störung wirklich immer nötig ist. Würde es nicht oft reichen wenn die Person ihre Situation in einer Liste über therapierbare Probleme findet, anstatt dass sie sich erstmal in die Kategorie der "gestörten" einordnen muss?
Quote: | Dass das Ganze "Störung" genannt wird, darüber kann man, wenn man will, sicher streiten. Aber der Name ändert m.E. nichts am Leiden. |
Ich finde schon. Wenn ich mir die Liste von psychischen Störungen so durchsehe und etwas über deren Symptome lese, dann fällt mir immer wieder auf, dass ich von einigen der Störungen ein paar Symptome selbst aufweise. Ich weiß jedoch auf der anderen Seite, dass mehrere Symptome zutreffen müssten, damit man eine psychische Störung bei mir diagnostizieren könnte. Das heißt ich kann mir am Ende sagen: Ich bin ein bisschen gestört, aber in dem Maße ist das noch ganz normal. Dies ist eine Wahrnehmung, welche die leidvollen Aspekte meines Lebens betont und damit vielleicht auch den Leidensdruck fördert.
Nun frage ich mich: Muss diese Sichtweise denn sein? Man könnte einige Störungen doch zum Beispiel auch als eine "unglückliche Umwelt-selbst-konstellation" sehen: Das Problem ist demnach nicht eine Störung in mir; das Problem ist vielmehr, dass mein Verhalten (und das in mir was damit in Verbindung steht) nicht gut mit meiner Umwelt bzw. meiner Situation zusammenpasst. Das wäre eine eher ganzheitliche (fast schon systemische) Sichtweise und zwar ohne die selbstentwertenden Assoziationen die bei dem Begriff der "Störung" aufkommen könnten. Auch wäre diese Sichtweise nicht so anfällig für Beschuldigungen gegen das Selbst ("wenn ich nicht so wäre, dann wäre alles anders").
Das wäre EINE vielleicht bessere Sichtweise...
Quote: | Die Unterscheidung, die Du befürwortest, gibt es übrigens: Schizophrenie gehört zu den psychischen Erkrankungen. |
Ah, das wusste ich nicht. Aber es freut mich sehr das zu hören!
Quote: | Ich hoffe, Dich nicht allzu sehr missverstanden zu haben. |
Ach was, mach dir mal keine Sorgen. Ich weiß ja auch, dass ich vieles oft nicht so eindeutig formuliert kriege, wie ich das gerne möchte. Und ich finde, dass du mich gut verstanden hast
Grüße
Der Suchende
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Toughy
[nicht mehr wegzudenken]
1312
Dtld W, 29
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Fri, 13.Oct.06, 8:29 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Suchender,
bin gerade erst bei der ersten Tasse Kaffee des Tages und noch nicht ganz fit. Bevor ich es aber wieder vergesse, will ich kurz einen Aspekt herausgreifen, der mich beim Lesen besonders ansprach:
Der Suchende wrote: | Wenn ich mir die Liste von psychischen Störungen so durchsehe und etwas über deren Symptome lese, dann fällt mir immer wieder auf, dass ich von einigen der Störungen ein paar Symptome selbst aufweise. Ich weiß jedoch auf der anderen Seite, dass mehrere Symptome zutreffen müssten, damit man eine psychische Störung bei mir diagnostizieren könnte. Das heißt ich kann mir am Ende sagen: Ich bin ein bisschen gestört, aber in dem Maße ist das noch ganz normal. Dies ist eine Wahrnehmung, welche die leidvollen Aspekte meines Lebens betont und damit vielleicht auch den Leidensdruck fördert. |
Da stimme ich Dir zu. Der "Defizitansatz", bei dem halt Stärken (auch die einer Störung) ausgeblendet werden, beeinflusst sicherlich das subjektive Erleben.
"Ein bisschen gestört" - hmm... *grübel*
Ich habe mir das nur mal im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen erklären lassen. Da ist es ja auch so, dass mehrere, ganz bestimmte Symptome auftreten müssen, um von einer Störung sprechen zu können. Ansonsten ist es einfach eine "normale" Variation dessen, wie Persönlichkeiten halt sein können. Meines Wissens gibt es auch Streit zwischen Wissenschaftlern über die Diagnostik einer Persönlichkeitsstörung, gerade weil dabei viele Persönlichkeitsanteile bei der Betrachtung außer Acht gelassen werden, die durchaus im Normbereich liegen können.
Dabei fällt mir ein: Der Leidensdruck kann doch nicht, wie ich erst annahm, der Indikator einer Störung sein. So gibt es auch (mindestens) eine Persönlichkeitsstörung, unter der der Betroffene selber meistens überhaupt nicht leidet, aber sein gesamtes Umfeld.
Hm, nun gerate ich etwas ins Schwimmen, weil eine Persönlichkeitsstörung nur eine mögliche Störung ist. Es gibt ja mehr davon, und ich wage im Moment keine Verallgemeinerung.
Aber noch einmal zurück zum Defizitansatz: Was als Defizit und somit ggf. als Störung betrachtet wird, ist ganz sicher abhängig von der Kultur u.ä. Das deutet ja schon darauf hin, dass im Zuge eines Kulturwandels Defizite als Ressourcen betrachtet werden können (Ich bin noch immer bei den Persönlichkeitsstörungen), die es aber immer schon sind. Den Unterschied macht wohl nur die Bewertung.
So wird beispielsweise über Borderliner gesagt, dass sie der gesellschaftlichen Anforderung des ständigen Rollenwechsels sehr gut, besser als andere, angepasst sind. Allerdings heißt das noch nicht, dass sie gut damit umgehen können. Da ist wirklich die Frage, ob der Name das Leiden macht, wie Du schreibst. Ich bin diesbezüglich noch skeptisch.
Der Suchende wrote: | Das Problem ist demnach nicht eine Störung in mir; das Problem ist vielmehr, dass mein Verhalten (...) nicht gut mit meiner Umwelt bzw. meiner Situation zusammenpasst. |
Oder mit dem Zeitgeist, ja.
Wirklich ein interessantes Thema!
Viele Grüße,
Toughy
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_________________ Es ist wichtig, jemanden dort abzuholen, wo er gerade ist. Aber manchmal ist es auch wichtig, jemanden dort zu lassen, wo er gerade sein will. |
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Fri, 13.Oct.06, 14:10 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Toughy!
Quote: | bin gerade erst bei der ersten Tasse Kaffee des Tages und noch nicht ganz fit. |
Hm... schau mal auf die Uhrzeit meines letzten Beitrags... ich bin sogar jetzt noch ganz verschlafen...
Da tut man sich was an mit diesen Ferien.
Quote: | Ich habe mir das nur mal im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen erklären lassen. Da ist es ja auch so, dass mehrere, ganz bestimmte Symptome auftreten müssen, um von einer Störung sprechen zu können. |
Ich muss ehrlich sagen, dass ich nicht genug über Persönlichkeitsstörungen weiß um da wirklich mitreden zu können. Ich kann mir aber vorstellen was du meinst. Denn vor allem wenn eine Persönlichkeitsstörung mit einer Störung des Erlebens einhergeht kann man das eigene Erleben des Leidensdruck nicht als Hauptkriterium verwenden.
Quote: | Dabei fällt mir ein: Der Leidensdruck kann doch nicht, wie ich erst annahm, der Indikator einer Störung sein. |
Soweit ich weiß werden psychische Störungen auch nicht allein aufgrund des Leidensdruck getroffen. Ich habe mal mein Buch über Psychologie hervorgeholt, indem eine Reihe von Diagnoskriterien genannt werden:
- Leidensdruck oder Behinderung im Alltag
- Fehlanpassungen (z.B. man steht sich selbst im Weg)
- Irrationalität
- Unberrechenbarkeit (das könnte vielleicht in interessantes Kriterium bei der Persönlichkeitsstörung sein)
- Statistische Seltenheit/starke Abweichungen (Eine Person zeigt Symptome die statistisch selten vorkommen oder stark von sozialen Standards abweichen wie z.B. Intelligenzminderung)
- Unbehagen bei Beobachtern
- Verletzung moralischer und gesellschaftlicher Normen
Mir ging es jedoch vorerst um einfachere "Störungen", wo der Leidensdruck als Kriterium ausreicht.
Quote: | Da ist wirklich die Frage, ob der Name das Leiden macht, wie Du schreibst. Ich bin diesbezüglich noch skeptisch. |
Obwohl ich diese Frage auch interessant finde, halte ich die Frage ob der Name vielleicht zu dem Leiden beiträgt, oder noch besser: Ob ein anderer Name nicht heilsamer wäre, für viel wichtiger.
Quote: | Oder mit dem Zeitgeist, ja. |
Genau!
Mir fällt gerade noch ein Argument gegen meinem Versuchsansatz (der Störung als "unglückliche Umwelt-Selbst-Konstellation") ein. Und zwar würde diese Sichtweise eventuell auch einen Verlust von Verantwortungsgefühl mit sich bringen. Ähnlich wie die Gestalttherapeuten, welche die Gesellschaft für alles psychische Leiden verantwortlich machen (was ich für sehr naiv halte), könnte man sein Leid auf die subjektiv unveränderliche Situation attribuieren. Diese Sichtweise könnte demnach auch das Erleben der Klienten mindern auf ihre schlechte Verfassung Einfluss nehmen zu können (man hat sozusagen nur noch zur hälfte Einfluss weil man subjektiv keinen Einfluss auf seine Umwelt hat).
Wobei ich meinen Ansatz nochmal von dem gestalttherapeutsichen Denken abgrenzen möchte: Ich ging von einer dynamischen Umwelt und einem dynamischen Selbst aus (d.h. beides ist bis zu einem gewissen Grad veränderbar) in dem die Ursache niemals in nur einem der beiden Aspekte gefunden werden kann (eben ganzheitlich, systemisch gedacht). Ich möchte nur sagen, dass die Gefahr besteht, dass die Klienten mit dem Bewusstwerden des Einflusses der Situation auch die Macht der Situation überschätzen und sich damit in ihrer "Heilung" behindern könnten. In dieser Hinsicht wäre der Begriff der "Störung" vielleicht sogar besser. Insgesamt denke ich das momentan jedoch nicht.
Quote: | Wirklich ein interessantes Thema! |
Ja, finde ich auch! Und es freut mich, dass ich damit nicht alleine stehe!
Gruß
Der Suchende
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Therese28
Forums-InsiderIn
331
Niederösterreich W, 28
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Fri, 13.Oct.06, 17:24 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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hey ihr,
DerSuchende wrote: | Man könnte einige Störungen doch zum Beispiel auch als eine "unglückliche Umwelt-selbst-konstellation" sehen: Das Problem ist demnach nicht eine Störung in mir; das Problem ist vielmehr, dass mein Verhalten [...] nicht gut mit meiner Umwelt bzw. meiner Situation zusammenpasst. |
Die Veränderungschancen einer Umbenennung sehe ich gleich null. Schließlich wird sie alleine nichts Grundlegendes verändern können. Das Kind bleibt nichtsdestotrotz das gleiche. Unabhängig davon, ob es nun Susi oder Franz heißt. Auch wenn man ihm ein neues Kleid verpaßt, bleibts das gleiche. Oder anders: eine Putze wird immer noch staubsaugen, auch wenn sie nun Raumpflegerin heißt. (die Diskriminierung klammere ich mal aus)
Du meinst doch selber, dass das Problem in dir ist. Gut, dann sieht dich die Gesellschaft eben nicht mehr als Gestörten an. Macht aber nichts -dann bist du(wir) eben "einer, der nicht dazupasst weil er anders ist".
Ich will damit sagen, dass die psychischen Störungen nicht durch ihre Bezeichnung selbst zu möglichen Stigmata werden, sondern durch ihre Charakteristika.
Die damit einhergehenden "Einschränkungen", welche die Person selber resp. die Gesellschaft betreffen, werden auf diese Weise nichts von ihrem Potential einbüßen.
In der Folge hat besagter Euphemismus keine heilende, sondern lediglich eine verwässernde Wirkung.
gruß
menis
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Sat, 14.Oct.06, 15:27 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Menis!
Quote: | Das Kind bleibt nichtsdestotrotz das gleiche. Unabhängig davon, ob es nun Susi oder Franz heißt. |
Das "Kind" ist meines Erachtens eine Konstellation verschiedener Faktoren, die sowohl positive als auch negative Auswirkungen haben, von denen die negativen jedoch leider überwiegen. Der Begriff der "Störung" erfasst jedoch nur die negativen Seiten. Er lässt die besagte Konstellation, fast schon wie eine Behinderung aussehen, indem er ausblendet dass die psychische "Störung" vielleicht gar keine Störung wäre, wenn sie in einem anderen Kontext betrachtet würde. (Ein Beispiel: Wenn sich ein Soldat von seinen Emotionen distanziert dann sehe ich das als eine durchaus natürliche und vor allem sinnvolle Reaktion und würde nicht auf die Idee kommen gegen dieses Symptom anzugehen, solange es ihm von Nutzen ist.)
Du hast natürlich recht: Das Kind bleibt das gleiche. Nur sage ich, dass das Kind durch die gängige Begrifflichkeit gar nicht als solches erfasst wird!
Quote: | Du meinst doch selber, dass das Problem in dir ist. |
Eben nicht! Deshalb habe ich ja für eine eher ganzheitlich (systemische) Sichtweise plädiert, die externale Faktoren mit einbezieht.
Quote: | Gut, dann sieht dich die Gesellschaft eben nicht mehr als Gestörten an. |
Viel wichtiger finde ich allerdings, dass ich mich nicht als Gestörten ansehe.
Quote: | Macht aber nichts -dann bist du(wir) eben "einer, der nicht dazupasst weil er anders ist". |
Bei der Sichtweise übersiehst du, dass ich sowohl die Umwelt als auch die Psyche als dynamische Faktoren sehe. Wenn überhaupt bin ich dann "einer, der sich in einem Zustand befindet, welcher in Konflikt mit der momentanen Umwelt steht". Dieser Zustand an sich ist jedoch etwas wertfreies (da er ja in einem anderen Kontext auch gut sein könnte) und nichts Negatives im Sinne einer Störung.
Quote: | Ich will damit sagen, dass die psychischen Störungen nicht durch ihre Bezeichnung selbst zu möglichen Stigmata werden, sondern durch ihre Charakteristika. |
Ich glaube, dass Unwissen und daraus resultierende Vorurteile eine viel entscheidendere Rolle spielen. Und diese Vorurteile werden durch den Begriff der "Störung" natürlich provoziert.
Betrachte nur mal das Beispiel Borderliner:
Boderliner werden von ihrer Umwelt oft als psychisch sehr gesund erlebt, weil sie so gut in gesellschaftlichen Kontexten zurecht kommen. Sie selbst erleben sich jedoch als eher instabil und können ihren positiven Eigenschaften wenig abgewinnen. Daran sieht man doch wie schnell sich die Wahrnehmung einer psychischen Störung verändert, wenn die positiven Auswirkungen offensichtlicher sind als die Negativen. Der Borderliner selbst erlebt die negativen Seiten stärker, das Umfeld jedoch die Positiven. Der Gedanke dass ein Mensch der scheinbar so gut zurecht kommt "gestört" sein soll scheint geradezu absurd.
Und jetzt stell dir mal vor wie dieser Mensch gesehen werden würde, wenn die anderen Menschen nur wüssten dass er psychisch gestört ist.
Quote: | Die damit einhergehenden "Einschränkungen", welche die Person selber resp. die Gesellschaft betreffen, werden auf diese Weise nichts von ihrem Potential einbüßen. |
Ich will nicht die "Einschränkungen verwässern", sondern ich will das Problem ganzheitlicher erfassen, sodass sowohl die Einschränkungen als auch die Vorteile und zuletzt auch die Ursache dafür, dass die Einschränkungen überhaupt Einschränkungen sind (nämlich der Kontext) zur Geltung kommen.
Dementsprechend sehe ich eher den Begriff der "psychischen Störung" als "verwässernd".
Gruß
Der Suchende
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Therese28
Forums-InsiderIn
331
Niederösterreich W, 28
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Sun, 15.Oct.06, 1:16 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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hallo,
Der Suchende wrote: | ich wrote: | Du meinst doch selber, dass das Problem in dir ist. | Eben nicht! Deshalb habe ich ja für eine eher ganzheitlich (systemische) Sichtweise plädiert, die externale Faktoren mit einbezieht. | Deine "systemische Sichtweise" und auch die "externalen(sic!) Faktoren" in allen Ehren, aber was bitte ist dann das Kind??
Hättest du kein Problem (in dir), so gäbe es auch kein Problem mit dem Problem der Problemlösung.
Mein Gefühl sagt mir, dass du mich nicht ganz verstanden hast -nicht nur in diesem Punkt!
Lass uns aber konkreter werden: Der Suchende wrote: | Der Begriff der "Störung" erfasst jedoch nur die negativen Seiten. | Exakt hier fußt die ursächliche Differenz.
Der Begriff Störung ist nämlich nicht(per se) negativ besetzt -gemeint ist eine Abweichung von einer Norm.
Polemisch könnte man anmerken, dies ließe den ganzen Thread nichtig werden. (begriffliche erklärung -> threadfrage geklärt -> einsicht)
Ich will das aber nicht tun.
Ich möchte mich Toughy anschließen, die hier schon viel früher ganz richtig die Unterscheidung zwischen Störung und Erkrankung mit ins Spiel gebracht hat, die eine ganz wesentliche ist.
Das ist auch der Grund dafür, weshalb im Fachjargon Augenmerk darauf gelegt wird, hier nichts zu verwechseln.
Dass die Gesellschaft, oftmals unzureichend informiert, präjudiziert, ist, wie ich schon zuletzt erwähnt habe, keine alleinige Sache der Begrifflichkeit.
Quote: | Viel wichtiger finde ich allerdings, dass ich mich nicht als Gestörten ansehe. | Ich hoffe das gelingt dir nun.
gruß
menis
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Anne1997
Helferlein
87
Deutschland / BB W, 41
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Sun, 15.Oct.06, 9:26 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo,
"studierte" gerade diesen sehr interessanten Thread, möchte nicht tiefer eingreifen, da ich noch nachdenken muss (mich erstaunte sehr das Alter von euch Schreibenden, damals habe ich über psychotherapeutische Dinge noch gar nicht nachgedacht, sondern habe studiert und war "brav"..). Das Wort Gestalttherapie begegnete mir erst im letzten Jahr.
Zwei Dinge fielen mir auf:
Quote: | Ähnlich wie die Gestalttherapeuten, welche die Gesellschaft für alles psychische Leiden verantwortlich machen (was ich für sehr naiv halte) | Das ist so sicherlich nicht die Absicht der Gestalttherapie (vielleicht mal in den 60er Jahren), die im Grunde höchst systemisch denkt und die Rolle des Klienten im Dialog / in Beziehung zur Gesellschaft / Familie und zum Therapeuten auszuleuchten versucht. Dieser Ansatz ist dynamisch und nicht starr. Gestalttherapeuten, die noch den anarchischen Ansatz verkörpern, verkennen, dass wir in Systemen leben, denen durchaus gestaltbare ("menschliche") Regeln zu Grunde liegen "müssen". Sonst ist Begegnung, Kontakt wohl kaum möglich. Verantwortlich (nicht ursächlich gemeint) für mein Problem als Klient bin erst einmal ich selbst - nicht die Gesellschaft. Ich leide, das hat seinen Grund und ein bestimmte Qualität und ich versuche, dies mehr zu verstehen, mein Leiden deutlich wahrzunehmen, um dann mehr Handlungsalternativen zu haben.
Quote: | Dass die Gesellschaft, oftmals unzureichend informiert, präjudiziert, ist, (...), keine alleinige Sache der Begrifflichkeit. |
Ja! - Dann kann ich auch den Begriff "Störung" - auch wenn er mir persönlich manchmal "weh tut" - akezptieren (abgegrenzt von psych. Erkrankung). Störung als Abweichung von der Norm sehe ich auch nicht negativ, sondern bereichernd für mich - meine Normen zu überdenken, flexibel zu denken, einen Standpunkt für jetzt zu finden.
Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt , Grüße, Anne
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Toughy
[nicht mehr wegzudenken]
1312
Dtld W, 29
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Sun, 15.Oct.06, 10:45 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hier ist ja was los! *staun*
Hallo Suchender,
hab gerade nur wegen Dir den Rechner hochgefahren, um einen wesentlichen Punkt anzusprechen. Jedenfalls denke ich, dass er wesentlich ist:
Wenn Du von Dir (oder wem auch immer) als Gestörten sprichst, dann identifizierst Du Dich mit der Störung. Zu sagen "Ich bin gestört" - damit ist der Fokus allein auf die Störung gelegt; als würde einen Menschen eben allein die Störung ausmachen.
Wenn man aber sagt "Ich habe eine Störung" ist das anders. Da ist noch Platz für mehr. Da ist noch Platz für: "Auch habe ich Humor, Interessen, Anstand, Gefühle, eine Wohnung, einen Schulabschluss, blaue Augen, braune Haare, Schuhgröße 42, einen PC, Intelligenz, ein Haustier, ..."
Haben kann man viel, und eine Sache allein sagt noch nichts darüber aus, wer oder wie man ist. Wenn man mit dem Gedanken herumläuft, dass das Haben gleichzusetzen mit dem Sein ist, könnte man sich zur Eigenbeschreibung, zur Charakterisierung auch als "Spaßvogel" oder "Schuhgröße-42-Träger" nennen. Das macht gewöhnlich aber niemand. Warum sich also als "Gestörten" bezeichnen?
Viele Grüße,
Toughy
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_________________ Es ist wichtig, jemanden dort abzuholen, wo er gerade ist. Aber manchmal ist es auch wichtig, jemanden dort zu lassen, wo er gerade sein will. |
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Sun, 15.Oct.06, 14:22 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo zusammen!
@menis
Quote: | Deine "systemische Sichtweise" und auch die "externalen(sic!) Faktoren" in allen Ehren, aber was bitte ist dann das Kind??
Hättest du kein Problem (in dir), so gäbe es auch kein Problem mit dem Problem der Problemlösung. |
Das Kind wäre in diesem Fall das System.
Und um nochmal auf mein Beispiel mit dem Soldaten zurückzukommen: Einen Menschen der keine Emotionen empfinden kann sehen wir als psychisch gestört (das heißt das Problem liegt lediglich in ihm), betrachten wir diesen Menschen jedoch im Kontext des Soldatenlebens, dann ist dies plötzlich eine gesunde und sinnvolle Reaktion. Demnach kann die Formulierung "Hättest du kein Problem (in dir), so gäbe es auch kein Problem mit dem Problem der Problemlösung" ja so nicht ganz ausreichend sein um die Situation zu erfassen. Denn in einem anderen Kontext gäbe es ja gar kein Problem, trotz gleicher psychischer Verfassung. Oder anders ausgedrückt: Wenn man den Kontext ändern könnte wäre das in einigen Fällen ja vielleicht eine ebenso effektive Lösung des Problems, darum kann das Problem nicht allein auf internale Faktoren reduziert werden.
Quote: | Der Begriff Störung ist nämlich nicht(per se) negativ besetzt -gemeint ist eine Abweichung von einer Norm. |
Ich denke, dass der Begriff für alle Menschen, die nicht Psychologie studiert haben und diese Definition demnach nicht kennen durchaus negativ besetzt ist. Zum einen weil mit dem Begriff negative Assoziationen einhergehen und zum anderen weil an den Begriff der "psychischen Störung" (nicht zuletzt wegen den negativen Assoziationen) viele Vorurteile gekoppelt sind. Und in der Regel sind die Psychotherapie Klienten doch Menschen, die nicht Psychologie studiert haben und demnach keine tiefergehende Einsicht in die Definition der "psychischen Störung" haben.
Quote: | Dass die Gesellschaft, oftmals unzureichend informiert, präjudiziert, ist, wie ich schon zuletzt erwähnt habe, keine alleinige Sache der Begrifflichkeit. |
Du hast recht: Es ist keine alleinige Sache der Begrifflichkeit. Es ist z.B. wie du sagtest auch eine Folge der Charakteristika. Dennoch ist es meiner Ansicht nach AUCH eine Folge der Begrifflichkeit und um dieses Problem geht es doch in diesem Thread. Nur weil es noch weitere Ursachen gibt heißt das doch nicht, dass wir diese ignorieren können.
Quote: | Ich hoffe das gelingt dir nun. |
Oh, da hab ich mich wohl missverständlich ausgedrückt. Ich sehe mich nicht als psychisch gestört. Ich wollte nur sagen, dass es mir in erster Linie darum geht, dass der Klient sich nicht als gestört ansieht und nicht darum, dass die Gesellschaft Klienten nicht als gestört ansieht.
@anne
Quote: | Gestalttherapeuten, die noch den anarchischen Ansatz verkörpern, verkennen, dass wir in Systemen leben, denen durchaus gestaltbare ("menschliche") Regeln zu Grunde liegen "müssen". |
Dann scheine ich da wohl ein eher konservatives Buch gelesen zu haben. Denn da sprach man von gesunden Menschen in einer "kranken Gesellschaft". Natürlich kann die Gestalttherapie mit ihrer Therapie trotzdem nur am einzelnen Menschen ansetzen, aber das wurde als die zentrale Sichtweise beschrieben.
Danke für die Korrektur.
(weiter im nächsten Beitrag...)
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Sun, 15.Oct.06, 14:22 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Quote: | Störung als Abweichung von der Norm sehe ich auch nicht negativ, sondern bereichernd für mich |
Fraglich ist jedoch ob die meisten anderen Menschen sich auch bewusst sind, dass mit dem Begriff der "Störung" eine Abweichung von der Norm gemeint ist. Die Definition an sich finde ich auch nicht negativ.
Allerdings finde ich den Gedanken negativ, dass eine einfache Abweichung von der Norm (die ja defintionsgemäß einer "Störung" gleich kommt) anscheinend therapiert werden muss. Das würde ja bedeuten, dass man in eine Psychotherapie muss nur weil man anders ist und nicht weil man krank ist. Die Abweichung allein kann es demnach doch wohl auch nicht so ganz sein, oder?
Quote: | Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt |
Ja, hast du.
@ Toughy
Quote: | hab gerade nur wegen Dir den Rechner hochgefahren |
Quote: | Haben kann man viel, und eine Sache allein sagt noch nichts darüber aus, wer oder wie man ist. |
Da muss ich gleich an "Haben oder Sein" von Erich Fromm denken (muss ich in letzter Zeit aus irgendeinem Grund sowieso öfters... ). Du hast vollkommen recht, das ist eine sehr wichtige Unterscheidung. War mir bislang noch nicht so bewusst. Danke erstmal für diesen Beitrag!
Dennoch wird das Problem damit zwar relativiert, jedoch nicht gelöst. Denn eine Störung zu haben mag zwar nicht so negativ sein wie gestört zu sein, es bleibt jedoch durchgehend negativ und übersieht positive Merkmale.
Gruß
Der Suchende
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Anne1997
Helferlein
87
Deutschland / BB W, 41
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Sun, 15.Oct.06, 15:35 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Suchender,
schön, dass ich für Dich verständlich war . Danke für Deine Anmerkungen.
Quote: | Natürlich kann die Gestalttherapie mit ihrer Therapie trotzdem nur am einzelnen Menschen ansetzen. |
In der Einzeltherapie ja - wobei das "System" mitschwingt (die Familie, die Partner, das berufl. Umfeld etc.).
Gestalttherapie ist - wie Verhaltenstherapie (die bezüglich der Gefühls"arbeit" vieles aus den humanistischen Richtungen (z.B. GT) übernommen hat, siehe Lit. von Gudrun Görlitz - eine Therapieform, die auch in Gruppen durchgeführt wird, vor allem bei Suchterkrankungen und Angst"störungen" und da überaus erfolgreich ist, siehe Wikipedia, speziell Literatur http://de.wikipedia.org/wiki/Gestalttherapie.
Ich bin bei einem Gestalttherapeuten, deshalb mein großes Interesse, Psychotherapierichtungen durchaus auch sehr kritisch zu sehen.
Quote: | Allerdings finde ich den Gedanken negativ, dass eine einfache Abweichung von der Norm (...) "Störung" (...)) anscheinend therapiert werden muss. | Das ist halt die Frage, entscheidend ist vielleicht die Frage, wie komme ich mit der Störung klar, wo schränkt sie mich und das Zusammenleben mit anderen so ein, dass sie mir - und damit auch dem Zusammenleben mit anderen wahrscheinlich - schadet? Dann empfiehlt sich eine Therapie. Oft ist es ja eine Abweichung von einer Norm, die ich mir gesetzt habe, die mir gesetzt wurde, die einfach "da" war.
Quote: | Das würde ja bedeuten, dass man in eine Psychotherapie muss, nur weil man anders ist und nicht weil man krank ist. |
Vielleicht nicht anders ist, sich aber anders fühlt, da man nicht mehr spürt, dass es anderen ähnlich geht. Was ist schon krank? Ich fühle mich nicht krank, mache dennoch eine Therapie, da ich mich eingeschränkt fühlte bzw. für mich stehen geblieben und fast verzweifelt bin.
Gruß Anne
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Der Suchende
Helferlein
134
NRW M, 20
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Tue, 17.Oct.06, 15:51 Re: Sind psychische Störungen wirklich immer Störungen? |
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Hallo Anne!
Quote: | Vielleicht nicht anders ist, sich aber anders fühlt, da man nicht mehr spürt, dass es anderen ähnlich geht. |
Demnach wäre eine psychische Störung ein außergewöhnliches psychisches Leiden. Das gefällt mir als grobe Definition zwar ganz gut, erklärt aber noch nicht warum dieser Zustand als "Störung" bezeichnet wird.
Quote: | Ich fühle mich nicht krank, mache dennoch eine Therapie, da ich mich eingeschränkt fühlte bzw. für mich stehen geblieben und fast verzweifelt bin |
Das zeigt, dass psychische Störungen oft mit Entwicklungsstörungen einhergehen, entweder weil sie diese verursachen oder weil sie von diesen verursacht wurden, oder eben beides. An dieser Stelle beginnt der Begriff der "Störung" Sinn zu machen. Doch ich bin mir im Moment nicht so sicher ob man das auf jede psychische Störung verallgemeinern kann. Muss ich nochmal drüber nachdenken...
Danke auf jedenfall, für deine Gedanken zu diesem Thema!
Gruß
Der Suchende
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