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Bonsai_112
Forums-InsiderIn
245
Deutschland W, 24
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Thu, 21.Sep.06, 17:27 Kurzgeschichte - Heile Welt |
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Heile Welt
Wieder mal bekomme ich mit, wie mein Vater am Telefon von mir erzählt. Das wöchentliche Gespräch mit seiner Schwester, die 300 Kilometer entfernt wohnt, läuft oft so ab. Er schwärmt von mir, wie gut ich meine Ausbildung abgeschlossen habe und wie schnell ich eine Festeinstellung mit meinen guten Zeugnissen bekam. Natürlich musste ich hart arbeiten, um das alles zu erreichen, aber gibt es denn kein anderes Thema? Alle sind stolz auf mich, aber niemand sieht, wie es mir wirklich geht. Die heile Welt. Das ist es, was alle wollen und ich bemühe mich, dazu beizutragen.
Seit ich meine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin abgeschlossen habe, bin ich auf der Suche nach einer eigenen Wohnung. Ein eigenes Reich, nur für mich. Meine Eltern würden mich ewig bei sich wohnen lassen, aber ich denke, mit 24 Jahren wird es Zeit das Nest zu verlassen.
Wenn ich nur endlich etwas Passendes finden würde.
Ich würde etwas freier leben können. Es ist schwer, sich selbst vor den eigenen Eltern verstecken zu müssen.
Wieder schließe ich mich im Badezimmer ein. Im Spiegelschrank, über dem Waschbecken, liegt sie. Klein, glänzend, scharf. Ich kann dem Drang nicht widerstehen und nehme sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich betrachte meinen Arm. Vernarbt und voll mit verkrusteten Wunden.
Ich muss es tun, sofort. Es ist, als wäre es nicht meine Hand, als ich die Klinge ansetze, in den Arm drücke und Zentimeter für Zentimeter durch die Haut ziehe. Es ist eine wunderschöne Farbe. Als die Sonne durch das Fenster auf meinen Arm scheint, glitzert das Blut. Ich beobachte, wie die roten Blutperlen meinen Arm herunter laufen. Mit einem Blatt Toilettenpapier fange ich sie auf, bevor sie auf die Badezimmermatte tropfen und hässliche Flecken hinterlassen.
Nachdem die Blutung etwas nachgelassen hat, klebe ich ein Pflaster auf die Wunde und spüle das blutige Blatt Toilettenpapier herunter. Die Rasierklinge lege ich zurück in den Schrank, hinter meinem Make up war sie schon immer gut versteckt.
Ich verlasse das Bad. Die Normalität in unserem Haus geht weiter. Meine Mutter hat Kaffee gekocht und ruft mich in die Küche, wo der Tisch mit Kuchen und Keksen auf mich wartet. Ich setze mich an den Tisch. Es ist ein ganz normaler Sonntagnachmittag. Auch mein Bruder ist zu Besuch. Er ist drei Jahre älter als ich und lebt in einer Wohngemeinschaft. Meine Eltern bezahlen für ihn die Miete, weil er keine Arbeit und nicht einmal die Hauptschule beendet hat. Das Arbeitsamt hat ihm schon des Öfteren Jobs angeboten, aber mit den verschiedensten Ausreden kam er immer davon. Er will nicht arbeiten gehen, aber meine Eltern wollen das nicht sehen und unterstützen ihn, wo es nur geht. Sie meinen, er hätte sehr viel Pech in der Schule gehabt.
Ich habe viele Wohnungsangebote nicht annehmen können, weil die Miete für mich zu hoch war. Aber da ich Arbeit habe, muss ich für mich selbst sorgen können. Ich bekomme keine finanzielle Unterstützung von meinen Eltern. Ich bin fleißig und klug genug, um alles allein zu schaffen.
Sie haben sich nie viel um mich kümmern müssen, weil ich ein problemloses Kind war. Ich bin allein dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Ich muss ihnen weiterhin die glückliche und zufriedene Tochter vorspielen.
Ich kann ihre heile Welt nicht zerstören. Es würde alles verändern. Sie wären so enttäuscht von mir. Aber ist es wichtiger, dass meine Eltern stolz auf mich sind und von mir schwärmen können, vor ihren Freunden und Kollegen, als dass ich ehrlich zu ihnen bin und sage, dass ich ein großes Problem habe? Das ich mich selbst verletze. Mir mit Rasierklingen in die Arme und Beine schneide, mich solange an einer Stelle kratze, bis es anfängt zu bluten oder mit dem Ellbogen gegen die Wand schlage, damit ich einen Bluterguss bekomme?
Die Enttäuschung wäre so groß, dass sie mich mit anderen Augen sehen würden. Sie würden nicht mehr am Telefon erzählen, was ich für eine bewundernswerte Tochter bin.
Fortsetzung folgt
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Bonsai_112
Forums-InsiderIn
245
Deutschland W, 24
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Thu, 21.Sep.06, 17:29 Re: Kurzgeschichte - Heile Welt |
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Ich würde ihre heile Welt zerstören. Ich wäre Schuld, wenn sie sich für mich schämen müssten. Ich kann diesen Frieden, den meine Eltern glauben in der Familie zu haben, nicht zerstören.
Also muss ich, für meine Eltern, weiterhin die heile Welt vorspielen.
„Carol“, höre ich plötzlich meinen Namen und mein Bruder stupst mich an, „wo bist du mit deinen Gedanken?“ „Ach nirgendwo“, antworte ich schnell, „ich muss zur Toilette“.
Und schon verschwinde ich im Bad und öffne den Spiegelschrank.
Bonsai
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Fruehlingsphoebe
Helferlein
89
Niedersachsen W, 29
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Sat, 23.Sep.06, 13:17 Re: Kurzgeschichte - Heile Welt |
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Hallo Bonsai
Ist das wirklich eine Kurzgeschichte oder deine Biographie und...willst du Meinungen dazu ?
Fruehlingsphoebe
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Bonsai_112
Forums-InsiderIn
245
Deutschland W, 24
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Sat, 23.Sep.06, 20:03 Re: Kurzgeschichte - Heile Welt |
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Hallo Fruehlingsphoebe!
Oh, das ist nicht meine Biographie. Allerdings steckt in jeder meiner Geschichten ein Teil von mir. Ich weiß wovon ich schreibe, aber es ist trotzdem eine Kurzgeschichte. Ich lebe z.B nicht mehr zu Hause und habe keinen Bruder. Einiges würde gar nicht auf mich zutreffen, aber manches eben schon.
Bonsai
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