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jabka
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Post Sat, 27.Nov.04, 2:00      schlimmer geht immer Reply with quoteBack to top

Hallo liebes Forum.

Ich habe gar kein konkretes Anliegen, sondern will mir einfach mal Luft machen. Sollte sich jemand finden, der mir erzählt, er habe Ähnliches erlebt, würde ich mich natürlich freuen. Wenn nicht, freue ich mich einfach über Zuhörer (Mitleser).

Ich habe ein wirklich verrücktes Jahr hinter mir. Habe vor genau einem Jahr eine Psychotherapie begonnen, weil ich am bittersten Ende war. Hab gekämpft und mein Leben umgestellt (stets schneller als mein Therapeut empfehlen konnte) und bin innerhalb eines dreiviertel Jahres zu neuer Pracht erblüht. Alles war (fast) perfekt. Mir ging es gut, ich war stakt, stabil und schön. Und plötzlich riss ein Schicksalsschlag alles aus den Fugen.

Mein bester Freund, bei dem Anfang des Jahres Hautkrebs diagnostiziert wurde, erreichte innerhalb weniger Tage das Endstadium und mein perfekt therapiertes Leben überschlug sich. Fünf Wochen saß ich an seinem Bett, fernab meiner Heimatstadt, fernab aller Pflichten, und habe seine Hand gehalten, bis er der Welt entschlafen ist. Als ich nach sechs Wochen wieder nach Hause kam, war es ohnehin schon schwer, wieder einen Einstieg in das normale Leben zu finden. Doch meine anderen Lebensumstände waren für eine Wiedereingliederung nicht gerade förderlich, allem voran meine Freunde.

Ich hatte das Gefühl, alle Freunde huschten davon wie Kakerlaken wenn das Licht angeht. Gewiss, der ein oder andere hat sich mit mir getroffen, doch die Scheu ist auch drei Wochen später immer noch extrem groß. Statt dass mal jemand nachfragt, belügen alle lieber ihr Gewissen mit dem Irrtum, Trauernde solle man besser in Ruhe lassen.
Im Verlauf der Therapie habe ich ohnehin schon zwei sehr enge Freunde verloren (einmal habe ich jemanden in die Wüste geschickt, einmal wurde ich "gekündigt" – wohlgemerkt eine Nebenwirkung der Therapie, vor der einen vorher niemand warnt!), und zuguterletzt habe ich meinen allerbesten Freund dieser heimtückischen Krankheit opfern müssen. Alles in allem ist das eine Bilanz, die mein Jahresbudget an Kraft, Emotionen und Zuversicht weit übersteigt.

Hinzu kommt, dass ich mich im Studium gerade in einer Schwebephase befinde und sehr, sehr viel Zeit habe. Also kaum inhaltliche (Heraus-) Forderung oder Ablenkung. Ganz schlecht!
Dann läuft meine Therapie gerade aus, das ist noch schlechter. Doch was soll ich tun? Ich könnte sie verlängern, aber ich wüsste nicht, wofür. Ich mache eine Verhaltenstherapie und habe mein verhaltenstherapeutisches Werkzeugköfferchen immer dabei. Wenn ich meinem Therapeuten in den letzten Wochen von obigen Problemen erzählt habe, konnte ich sie im Anschluss immer selbst analysieren und zumindest theoretisch behandeln, sodass er als Therapeut überflüssig war. Praktisch macht es mir trotz alledem immer mehr zu schaffen.

Es ist verrückt, wie man innerhalb von zwei Monaten vom Zenit des Seelenglücks in die tiefsten Abgründe zurück geschleudert werden kann, wenn das Schicksal es nicht gut mit einem meint. Vor allem aber ist es schlimm, in solchen Situationen zu bemerken, wie zweifelhaft die Freundschaften sind, die man über Jahre mit Herzblut aufgebaut hat.

Doch ein Gutes hat die ganze Sache: Der Großteil alltäglicher Probleme kostet mich mittlerweile ein müdes Lächeln. Denn ich weiß, es kann immer noch schlimmer kommen!

In diesem Sinne: Eine gute Nacht Euch allen und ein schönes, fröhliches und entspanntes Wochenende wünscht Euch

jabka
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clandestina
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Post Sat, 27.Nov.04, 22:01      Re: schlimmer geht immer Reply with quoteBack to top

Hallo Jabka,

Dein Anliegen kann ich bedingt nachempfinden, zwar nicht, weil ich ähnlich schwere Schickalsschläge in der letzten zeit habe erleben müssen, dennoch sehe ich einige Parallelen zu meiner Situation.
Zunächst einmal möchte ich Dir mein beileid ausdrücken, über den Verlust Deines besten Freundes. Ich kann mit, nur theroretisch vortsellen, wie es ist, jemanden, den man gern hat, zu verlieren, ist in meiner Familie und meinem Bekanntenkreis bisher noch niemand verstorben.
So ist meine Ansicht über den Tod eben auch nur auf meine Überlegungen mit ihm zu begründen und ich konnte sie bisher noch nicht praktisch anwenden (das mag sich sehr skurril anhören)
Ich denke, dass dem Tod in unserer Gesellschaft zu wenig Beachtung beigemessen wird, was durch seine defintive Zugehörigkeit in unser aller Leben eigentlich sehr widersinnig ist. Durch dieses Verschweigen ist der Tod für uns etwas, vor dem wir Angst haben, es signalisiert das irdische Leben. Ich gehe von der Annahme aus, dass der Mensch aus zwei gründen wirklich existiert, nämlich einerseits durch sein physisches Dasein und auf der anderen Seite durch sein soziales Umfeld, das heisst, dass wir wissen, dass wir sind, weil wir uns körperlich wahrnehmen und weil wir Reflexionen und Feedback unseres sozialen Umfeldes bekommen. Von diesem Standpunkt aus ist Dein Freund, vorsichtig formuliert, nur halb tot, denn Du und seine Familie und anderen Bekannten, Ihr tragt ihn weiterhin in Eurem Herzen, in Euren Erinnerungen. Er wird Euch, auch wenn nicht mehr physisch, so doch in Eurer Seele, weiterbegleiten. Ich weiss, dass kann Dir wahrscheinlich nicht den Schmerz nehemn, den sein Verlust in Dir ausgelöst hat, aber dennoch, die Traurigkeit wird bald den schönen Erinnerungen weichen und er wird lebendig in Dir weiterleben.
Dass Du nun durch diese Einschnitte in Dein Leben das theoretische Wissen aus Deiner Therapie nicht so recht umsetzen kannst, ist völlig verständlich, sind doch diese Schicksalsschläge verbunden mit ganz neuen Emotionen, die Dein Wissen ersteinmal greifen müssen. Auch das erfordert von Dir ein weiteres arbeiten mit Dir selbst, sind doch die Ratschläge aus einer Therapie zwar nach einem bestimmten Kognitionsmuster geordnet, aber dennoch müssen sie an verschiedenste Situationen erst angepasst werden, um auch hier hilfreich zu sein.
Bei mir ist es so, dass ich mich momentan in einer ganz neuen Situation befinde, die mich mit meinen Ängsten auf grausame Art konfrontiert. Das Wissen um meine Psyche und das positive Umgehen damit, muss ich wieder neu lernen, um es auf meine momentane Situation adäquat anwenden zu können. Es ist ein permanentes Arbeiten an Dir selber, das immer wieder Deine Grenzen versucht auszuloten, aber jedes Mal, nach vielen Anstrengungen, geht man wieder ein klein bisschen gestärkter aus dem Dilemma heraus.
Ich würde Dir gern ein Patentrezept geben, aber wie so oft, gibt es so was nicht.
Deshalb wünsche ich Dir einfach viel erfolg und höre nicht auf, an Dir und Deinen Situation zu arbeiten, Dich nicht zu sehr vereinnahmen lassen, auch wenn es manchmal sehr schwer erscheint.
Alles Gute wünscht Dir
clandestina
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jabka
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Post Sun, 28.Nov.04, 12:38      Re: schlimmer geht immer Reply with quoteBack to top

Hallo Clandestina,

vielen Dank für Deine Anteilnahme. Du hast völlig recht, wir haben in unserer westlichen Welt absolut keine Trauerkultur. Im Gegenteil: das Sterben wird tabuisiert, als sei es ein moralisches Verbrechen sich mit dem Gedanken auseinander zu setzen, irgendwann abzuleben.
Meiner Meinung nach steht das in engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Zwang, bis ins hohe Alter optisch jung, schön, schlank und faltenfrei zu bleiben. Das alles sind Versuche, das unausweichliche Ende zu vertuschen. Denn ist das Thema Tod erst auf dem Tisch, muss man sich damit auseinandersetzen – und da haben wir dann den Salat. (Was das bedeutet, will ich lieber gar nicht erst anfangen auszuführen – darüber könnte ich Romane abfassen!)
Im Alltag stört die fehlende Auseinandersetzung mit dem Tod nicht. Erst wenn wirklich mal jemand mit dem Thema in Berührung kommt, deutet sich die Katastrophe an. Lieber schweigen und den Schwanz einziehen als trösten und mitdenken. Ersteres hat man ein Leben lang gelernt, für Letzteres müsste man über seinen eigenen Schatten springen. Die kläglichen Versuche à la "Kopf hoch" und "Wird schon wieder" darf man den Leuten da wirklich nicht übel nehmen, weiß ich ja selbst.

clandestina wrote:
Ich gehe von der Annahme aus, dass der Mensch aus zwei gründen wirklich existiert, nämlich einerseits durch sein physisches Dasein und auf der anderen Seite durch sein soziales Umfeld, (...) Von diesem Standpunkt aus ist Dein Freund, vorsichtig formuliert, nur halb tot, denn Du und seine Familie und anderen Bekannten, Ihr tragt ihn weiterhin in Eurem Herzen, in Euren Erinnerungen. Er wird Euch, auch wenn nicht mehr physisch, so doch in Eurer Seele, weiterbegleiten.


Ich gebe Dir recht mit der Idee eines körperlichen und eines sozialen Lebens. Es fühlt sich praktisch tatsächlich so an. Wahrscheinlich ist es das, was man anstreben sollte zu hinterlassen, wenn man von der Welt geht: Soziale Präsenz in den Herzen der Menschen. Klingt kitschig, aber genau das bleibt übrig.

Quote:
Auch das erfordert von Dir ein weiteres arbeiten mit Dir selbst, sind doch die Ratschläge aus einer Therapie zwar nach einem bestimmten Kognitionsmuster geordnet, aber dennoch müssen sie an verschiedenste Situationen erst angepasst werden, um auch hier hilfreich zu sein.


Ich glaube nicht, das irgendwelche therapeutischen Maßnahmen - schon gar nicht in der Verhaltenstherapie! - bei der Bewältigung von Trauer helfen können. Jedenfalls nicht mehr als ich mir bereits selbst dabei helfen kann. Denn Trauer ist ein Gefühl, das sich von jeder anderen depressiven Verstimmung extrem unterscheidet. Während dir bei normalen Depressionen in aller Regel falsche Denkmuster die Beine weghauen, ist der Grund für das Trauern eine unabänderliche Tatsache, der man begegnen muss. Diese Begegnung nennt man schlicht Abschied. D.h. man muss durch diese düstere Phase einfach durch, bis der Abschied vollzogen ist. Ist eine Erkenntnis, die für mich auch völlig neu, aber sehr wichtig war.

Quote:
Ich würde Dir gern ein Patentrezept geben, aber wie so oft, gibt es so was nicht.


Vielen Dank, doch ich denke, ich brauche kein Patentrezept mehr, denn ich bin bereits extrem gestärkt aus dieser und allen vorherigen Situationen hervorgegangen. Nur bei aller Stärke wünsche ich mir manchmal eben doch, dass das Leben mal nett zu mir ist und mich für die Strapazen des letzten Jahres belohnt. Ein ganz kleiner, irrationaler Wunsch. Aber bald ist ja Weihnachten...

Liebe Grüße,

jabka
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